Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.IX. Fragment. Von der Harmonie -- Der hübsche Bauerssohn war aber auch Stadt- und Landbekanntermaßen ein stol- 3. Für's dritte müssen wir uns nur über die Worte recht verstehen. Geht man man hin und spricht den Satz so schlecht und roh aus: "der Tugendhafte So kann es also kommen, daß der eine viel vortreffliche Anlagen, viel Gutes hat, einem *) Die Kinder die besten Physiognomisten, die
wahrsten Gegenstände der Physiognomik, wären wohl[Spaltenumbruch] eines besondern Fragments -- wären eines ganzen Bandes werth. Aber wer will es verfassen? IX. Fragment. Von der Harmonie — Der huͤbſche Bauersſohn war aber auch Stadt- und Landbekanntermaßen ein ſtol- 3. Fuͤr's dritte muͤſſen wir uns nur uͤber die Worte recht verſtehen. Geht man man hin und ſpricht den Satz ſo ſchlecht und roh aus: „der Tugendhafte So kann es alſo kommen, daß der eine viel vortreffliche Anlagen, viel Gutes hat, einem *) Die Kinder die beſten Phyſiognomiſten, die
wahrſten Gegenſtaͤnde der Phyſiognomik, waͤren wohl[Spaltenumbruch] eines beſondern Fragments — waͤren eines ganzen Bandes werth. Aber wer will es verfaſſen? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0094" n="66"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">IX.</hi> <hi rendition="#g">Fragment. Von der Harmonie</hi> </hi> </fw><lb/> <p>— Der huͤbſche Bauersſohn war aber auch Stadt- und Landbekanntermaßen ein ſtol-<lb/> zer, harter, hitziger, frecher Mann, und ſein Geſicht ein zu treuer Ausdruck davon. — Der-<lb/> gleichen Wirkungen menſchlicher Angeſichter, beobachtete ich ſchon eine Menge an dem Kinde,<lb/> viel fruͤher als dieß geſchehen war; und an welchem Kinde nicht? <note place="foot" n="*)">Die Kinder die beſten Phyſiognomiſten, die<lb/> wahrſten Gegenſtaͤnde der Phyſiognomik, waͤren wohl<cb/><lb/> eines beſondern Fragments — waͤren eines ganzen<lb/> Bandes werth. Aber wer will es verfaſſen?</note></p><lb/> <p>3. Fuͤr's dritte muͤſſen wir uns nur uͤber die Worte recht verſtehen.</p><lb/> <p>Geht man man hin und ſpricht den Satz ſo ſchlecht und roh aus: „der Tugendhafte<lb/> „iſt ſchoͤn, der Laſterhafte koͤrperlich haͤßlich:“ ſo giebt's auch beynahe eben ſo viele Einwen-<lb/> dungen als verſchiedene Begriffe von tugendhaft und laſterhaft! moraliſch gut und ſchlimm!<lb/> Die hoͤfliche Welt, die jeden Menſchen, von dem ſie nicht geradezu ſagen darf, er ſey laſter-<lb/> haft, einen tugendhaften nennt; und der ſchwache Religioſe, dem jeder, den er nicht nach ſei-<lb/> nem Jdeale tugendhaft nennen kann, laſterhaft heißt; der Officier, der den Mann von Ehre,<lb/> und den Soldaten, der gut in ſeinen Dienſt taugt, tugendhaft — der Poͤbel; der niemanden, als<lb/> wer wider den Buchſtaben des ſechſten, ſiebenten, achten und neunten Gebots ſuͤndigt, laſter-<lb/> haft nennt; und der Bauer, der tugendhaft bleibt, ſo lang er nicht in des Landvoigts Ge-<lb/> richt faͤllt; der eingeſchraͤnkte Moraliſt, der nichts moraliſch gut heißt, als was durch Wider-<lb/> ſtand und aͤngſtliche Verlaͤugnungen erworben iſt, oder dem Tugend gar Stoicismus iſt: —<lb/> dieſe alle werden, ein jeder nach ſeinen Begriffen, gegen dieſen ſo ſchwebenden, unbeſtimmten, para-<lb/> dox-vorgetragenen Satz aufſtehen, und zeugen! Allein man hat ja ſchon von oben herunter<lb/> merken koͤnnen, daß ich hier die Woͤrter <hi rendition="#fr">Tugend</hi> und <hi rendition="#fr">Laſter</hi> im allerweiteſten Umfang, in<lb/> der groͤßten Ausdehnung nehme, oder eigentlich nur <hi rendition="#fr">uͤberhaupt</hi> von <hi rendition="#fr">moraliſcher Schoͤnheit</hi><lb/> und <hi rendition="#fr">Haͤßlichkeit</hi> rede! Zu <hi rendition="#fr">jener</hi> rechne ich alles Edle, Gute, Wohlwollende, zu guten Zwecken<lb/> ſich Regende und Wirkſame, wie's immer in die Seele gekommen ſeyn mag; zu <hi rendition="#fr">dieſer</hi> alles<lb/> Unedle, Uebelwollende, Widrige, Kleine, wie's immer in's Herz gekommen ſey.</p><lb/> <p>So kann es alſo kommen, daß der eine viel vortreffliche Anlagen, viel Gutes hat,<lb/> auch lange Zeit dieſes Gute angebaut hat, aber ſpaͤter einer Leidenſchaft den Zuͤgel laͤßt — in<lb/> <fw place="bottom" type="catch">einem</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [66/0094]
IX. Fragment. Von der Harmonie
— Der huͤbſche Bauersſohn war aber auch Stadt- und Landbekanntermaßen ein ſtol-
zer, harter, hitziger, frecher Mann, und ſein Geſicht ein zu treuer Ausdruck davon. — Der-
gleichen Wirkungen menſchlicher Angeſichter, beobachtete ich ſchon eine Menge an dem Kinde,
viel fruͤher als dieß geſchehen war; und an welchem Kinde nicht? *)
3. Fuͤr's dritte muͤſſen wir uns nur uͤber die Worte recht verſtehen.
Geht man man hin und ſpricht den Satz ſo ſchlecht und roh aus: „der Tugendhafte
„iſt ſchoͤn, der Laſterhafte koͤrperlich haͤßlich:“ ſo giebt's auch beynahe eben ſo viele Einwen-
dungen als verſchiedene Begriffe von tugendhaft und laſterhaft! moraliſch gut und ſchlimm!
Die hoͤfliche Welt, die jeden Menſchen, von dem ſie nicht geradezu ſagen darf, er ſey laſter-
haft, einen tugendhaften nennt; und der ſchwache Religioſe, dem jeder, den er nicht nach ſei-
nem Jdeale tugendhaft nennen kann, laſterhaft heißt; der Officier, der den Mann von Ehre,
und den Soldaten, der gut in ſeinen Dienſt taugt, tugendhaft — der Poͤbel; der niemanden, als
wer wider den Buchſtaben des ſechſten, ſiebenten, achten und neunten Gebots ſuͤndigt, laſter-
haft nennt; und der Bauer, der tugendhaft bleibt, ſo lang er nicht in des Landvoigts Ge-
richt faͤllt; der eingeſchraͤnkte Moraliſt, der nichts moraliſch gut heißt, als was durch Wider-
ſtand und aͤngſtliche Verlaͤugnungen erworben iſt, oder dem Tugend gar Stoicismus iſt: —
dieſe alle werden, ein jeder nach ſeinen Begriffen, gegen dieſen ſo ſchwebenden, unbeſtimmten, para-
dox-vorgetragenen Satz aufſtehen, und zeugen! Allein man hat ja ſchon von oben herunter
merken koͤnnen, daß ich hier die Woͤrter Tugend und Laſter im allerweiteſten Umfang, in
der groͤßten Ausdehnung nehme, oder eigentlich nur uͤberhaupt von moraliſcher Schoͤnheit
und Haͤßlichkeit rede! Zu jener rechne ich alles Edle, Gute, Wohlwollende, zu guten Zwecken
ſich Regende und Wirkſame, wie's immer in die Seele gekommen ſeyn mag; zu dieſer alles
Unedle, Uebelwollende, Widrige, Kleine, wie's immer in's Herz gekommen ſey.
So kann es alſo kommen, daß der eine viel vortreffliche Anlagen, viel Gutes hat,
auch lange Zeit dieſes Gute angebaut hat, aber ſpaͤter einer Leidenſchaft den Zuͤgel laͤßt — in
einem
*) Die Kinder die beſten Phyſiognomiſten, die
wahrſten Gegenſtaͤnde der Phyſiognomik, waͤren wohl
eines beſondern Fragments — waͤren eines ganzen
Bandes werth. Aber wer will es verfaſſen?
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/94>, abgerufen am 16.02.2025. |