Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.IX. Fragment. Von der Harmonie Einen Augenblick vergeß ich besonders in meinem Leben nicht; denn er hat zu tief ein- Auch seitdem denk' ich oft nach, warum doch das, in seinen Anlagen so herrliche, das Und je mehr ich nachdenke, desto mehr find' ich, daß doch immer der Mensch -- Einmal: moralische Erschlaffung zieht in tausend kleinern und größern Dingen Ver- Jn kleinen Schritten geht immer eine Verschlimmerung vor sich, die sich bis in tau- Und hingegen wo z. B. und vornehmlich der Trieb der Menschenliebe -- der Güte schöne-
IX. Fragment. Von der Harmonie Einen Augenblick vergeß ich beſonders in meinem Leben nicht; denn er hat zu tief ein- Auch ſeitdem denk' ich oft nach, warum doch das, in ſeinen Anlagen ſo herrliche, das Und je mehr ich nachdenke, deſto mehr find' ich, daß doch immer der Menſch — Einmal: moraliſche Erſchlaffung zieht in tauſend kleinern und groͤßern Dingen Ver- Jn kleinen Schritten geht immer eine Verſchlimmerung vor ſich, die ſich bis in tau- Und hingegen wo z. B. und vornehmlich der Trieb der Menſchenliebe — der Guͤte ſchoͤne-
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IX. Fragment. Von der Harmonie
Einen Augenblick vergeß ich beſonders in meinem Leben nicht; denn er hat zu tief ein-
geſchnitten in mein Herz. Jn einem Garten war's im ſchoͤnſten Monate, als ich vor einem
Beete, voll der herrlichſten Blumen, wonnevoll ſtand. Mit luſttrunkenem Blicke hieng ich
eine Weile auf dieſen ſchoͤnen Kindern Gottes, und in dieſem ſuͤßen Gefuͤhl ſtieg ich in meinen
Gedanken zu lebendigern Thierſchoͤnheiten, und ſo fort zum Menſchen empor, zu dem hoͤchſten,
das ich durch meine Sinnen erkennen kann! zu ihm, der ſo viel perfektibler iſt, als alle Blu-
men! ſtand, und ein herrlich Menſchenbild war vor meiner Stirn — das mein Herz mit ho-
her Wonne umfieng; — ein Geraͤuſch Vorbeygehender unterbrach mich. Jch blickte auf —
Gott! mit welchem Wehmuthsſchrecken mich das Bild traf — Jch ſahe drey, gerade die aller-
verſunkenſten, haͤßlichſten, ekelhafteſten Kerls, drey Jdeale von Landſtreichern! —
Auch ſeitdem denk' ich oft nach, warum doch das, in ſeinen Anlagen ſo herrliche, das
ſchoͤnſte Geſchlecht von Erdegeſchoͤpfen, am tiefſten in ſo mannichfaltige Geſtalten der Haͤßlich-
keit und Ekelhaftigkeit, und des Abſcheues verſunken ſey. —
Und je mehr ich nachdenke, deſto mehr find' ich, daß doch immer der Menſch —
das Geſchlecht ſelbſt, und hiemit jedes Jndividuum an ſeinem Orte hieran Schuld iſt; deſto
mehr find' ich, daß auch dieß in dem Kreiſe der menſchlichen Perfektibilitaͤt liegt: — deſto mehr
werd' ich uͤberzeugt, daß dieß gerade nur wieder Tugend und Laſter in allen Nuͤancen, und
in ihren und entferntern Folgen iſt: Naͤmlich auf folgende doppelte Weiſe:
Einmal: moraliſche Erſchlaffung zieht in tauſend kleinern und groͤßern Dingen Ver-
fall, Verunedlung, Vergroͤberung — Verderbniß nach ſich; und moraliſche Kraft, Ener-
gie, Thaͤtigkeit, Leidensſtaͤrke, zieht von dieſem allen zuruͤck, — und bildet allerley Anlagen
zu Schoͤnem und Gutem, mithin auch den Ausdruck deſſelben, Schoͤnheit aller Art, aus.
Jn kleinen Schritten geht immer eine Verſchlimmerung vor ſich, die ſich bis in tau-
ſendfaͤltige Carikaturen nach den mannichfaltigſten determinirenden Gruͤnden hinaus modificirt —
wenn kein recht warmer Trieb zur Vervollkommnung dagegen wirkt.
Und hingegen wo z. B. und vornehmlich der Trieb der Menſchenliebe — der Guͤte
im Menſchenherzen herrſcht, auch ohne Ruͤckſicht auf den unmittelbaren liebenswuͤrdigſten Aus-
druck derſelben; — welche feine, welche feſte Bildung giebt ſie nicht! welch' angenehme Ver-
ſchoͤne-
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