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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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von Urtheilen über Porträte.
6.

Alles Einzelne gut! sehr kenntlich -- aber die Form des Ganzen, die Proportion ist
nicht wahr.

7.

Die Form, die Proportion gut; das Einzelne alles zu unbestimmt, bloß im Ganzen ge-
nommen.

8.

Und zu diesem? .... Trefflich kenntlich, redend! Zeichnung gut, Proportion gut -- aber
zu ängstlich, zu hart, zu flach. -- Schlechte, kraftlose Mahlerey; nicht rund, nicht lebend!

9.

Das auch schlechte Mahlerey? ... Nein, trefflich gemahlt, trefflich kennbar! aber im
Blick, im Munde etwas fremdes, starres.

10.

Und was hat dieses für Fehler?

So viel Gutes, daß man nicht viel von Fehlern sagen sollte; Stirn, Augen, Nase, Mund,
Kinn -- zum Erstaunen rund, gut gemahlt, in trefflichem Lichte; doch ist die Stellung gezwun-
gen, die Miene bey aller Kennbarkeit kalt, trocken, seelenlos.

11.

Und dieß? ... Erstaunlich kennbar, aber nicht in der gewöhnlichsten, natürlichsten Laune.
Die ganze Miene ist, wie mit einem Nebel überzogen.

12.

Aber an diesem nun werden Sie doch nichts auszusetzen finden? Nichts, als dieß: der
Mahler zeichnete eine Succession, eine Fluxion der Miene, und hielt nicht Eine einfache fest. Die
Simultaneität des Gesichtes fehlt, die Harmonie. Widersprechende Zustände und Bewegungen
sind in großen Partheyen -- in einzelnen Zügen. Es ist nicht Ein und dasselbe Moment.

13.

Aeußerst kenntlich, aber zu stark und zu viel Feuer!

14. Aeußerst
von Urtheilen uͤber Portraͤte.
6.

Alles Einzelne gut! ſehr kenntlich — aber die Form des Ganzen, die Proportion iſt
nicht wahr.

7.

Die Form, die Proportion gut; das Einzelne alles zu unbeſtimmt, bloß im Ganzen ge-
nommen.

8.

Und zu dieſem? .... Trefflich kenntlich, redend! Zeichnung gut, Proportion gut — aber
zu aͤngſtlich, zu hart, zu flach. — Schlechte, kraftloſe Mahlerey; nicht rund, nicht lebend!

9.

Das auch ſchlechte Mahlerey? ... Nein, trefflich gemahlt, trefflich kennbar! aber im
Blick, im Munde etwas fremdes, ſtarres.

10.

Und was hat dieſes fuͤr Fehler?

So viel Gutes, daß man nicht viel von Fehlern ſagen ſollte; Stirn, Augen, Naſe, Mund,
Kinn — zum Erſtaunen rund, gut gemahlt, in trefflichem Lichte; doch iſt die Stellung gezwun-
gen, die Miene bey aller Kennbarkeit kalt, trocken, ſeelenlos.

11.

Und dieß? ... Erſtaunlich kennbar, aber nicht in der gewoͤhnlichſten, natuͤrlichſten Laune.
Die ganze Miene iſt, wie mit einem Nebel uͤberzogen.

12.

Aber an dieſem nun werden Sie doch nichts auszuſetzen finden? Nichts, als dieß: der
Mahler zeichnete eine Succeſſion, eine Fluxion der Miene, und hielt nicht Eine einfache feſt. Die
Simultaneitaͤt des Geſichtes fehlt, die Harmonie. Widerſprechende Zuſtaͤnde und Bewegungen
ſind in großen Partheyen — in einzelnen Zuͤgen. Es iſt nicht Ein und daſſelbe Moment.

13.

Aeußerſt kenntlich, aber zu ſtark und zu viel Feuer!

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[87/0115] von Urtheilen uͤber Portraͤte. 6. Alles Einzelne gut! ſehr kenntlich — aber die Form des Ganzen, die Proportion iſt nicht wahr. 7. Die Form, die Proportion gut; das Einzelne alles zu unbeſtimmt, bloß im Ganzen ge- nommen. 8. Und zu dieſem? .... Trefflich kenntlich, redend! Zeichnung gut, Proportion gut — aber zu aͤngſtlich, zu hart, zu flach. — Schlechte, kraftloſe Mahlerey; nicht rund, nicht lebend! 9. Das auch ſchlechte Mahlerey? ... Nein, trefflich gemahlt, trefflich kennbar! aber im Blick, im Munde etwas fremdes, ſtarres. 10. Und was hat dieſes fuͤr Fehler? So viel Gutes, daß man nicht viel von Fehlern ſagen ſollte; Stirn, Augen, Naſe, Mund, Kinn — zum Erſtaunen rund, gut gemahlt, in trefflichem Lichte; doch iſt die Stellung gezwun- gen, die Miene bey aller Kennbarkeit kalt, trocken, ſeelenlos. 11. Und dieß? ... Erſtaunlich kennbar, aber nicht in der gewoͤhnlichſten, natuͤrlichſten Laune. Die ganze Miene iſt, wie mit einem Nebel uͤberzogen. 12. Aber an dieſem nun werden Sie doch nichts auszuſetzen finden? Nichts, als dieß: der Mahler zeichnete eine Succeſſion, eine Fluxion der Miene, und hielt nicht Eine einfache feſt. Die Simultaneitaͤt des Geſichtes fehlt, die Harmonie. Widerſprechende Zuſtaͤnde und Bewegungen ſind in großen Partheyen — in einzelnen Zuͤgen. Es iſt nicht Ein und daſſelbe Moment. 13. Aeußerſt kenntlich, aber zu ſtark und zu viel Feuer! 14. Aeußerſt

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/115>, abgerufen am 21.11.2024.