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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XII. Fragment.
Zwölftes Fragment.
Wie viel man aus den Schattenrissen sehen kann?

Nicht alles -- oft sehr viel, oft aber auch nur sehr wenig, kann aus einem genauen Schatten-
risse von dem Charakter eines Menschen gesehen werden.

Jch bin gesonnen, eine Menge Schattenrisse hier vorzulegen, um dadurch, unter andern,
begreiflich zu machen, was sich aus verschiedenen bloßen Umrissen menschlicher Gesichter mit Si-
cherheit und Wahrscheinlichkeit schließen lasse?

Wer alles aus dem bloßen Schattenrisse sehen will, ist so thöricht, wie der, der aus dem
Wasser eines Menschen alle seine Kräfte und Schwachheiten, würkliche und mögliche Beschwerden
errathen will; und wer nichts aus einem Schattenrisse zu sehen für möglich hält, ist dem Arzte
ähnlich, der schlechterdings kein Wasser ansehen will.

Aber! so ist nun einmal der Gang aller menschlichen Meynungen -- "Alles Ja! -- oder
"alles -- Nein!" -- "Von einem Aeussersten zum andern" -- "Entweder alles -- oder nichts" --

Weder alles, noch nichts -- läßt sich aus einer bloßen Silhouette sehen -- nämlich von
uns
-- nämlich in unserer Beschränktheit. Was ein höheres Wesen hiezu denken könnte? Ob's
nicht vom Umriß auf den Jnnhalt, die Figur, Elasticität, Feuer, Kraft, Beweglichkeit, Le-
ben der Nase, des Mundes, der Augen -- von diesen auf den ganzen Charakter, die würklichen,
die möglichen Leidenschaften schließen, sicher schließen, im Schattenbild den ganzen Menschen se-
hen könne? das will ich nicht entscheiden. Aber unmöglich scheint es mir gar nicht. Nicht nur
nicht unmöglich! höchst wahrscheinlich! etwas davon ist -- so gar den gemeinsten Menschen mög-
lich. Beweise werden wir bald anführen.

Wahr ist's, über viele Silhouetten, bisweilen selbst von ausserordentlichen Menschen, weiß
man, weiß wenigstens ich, so viel als nichts zu sagen. -- Aber alle diese ausserordentlichen Men-
schen, denen man's nicht wohl in der Silhouette ansieht, daß sie sich auszeichnen -- sehen
dennoch

Bloß
XII. Fragment.
Zwoͤlftes Fragment.
Wie viel man aus den Schattenriſſen ſehen kann?

Nicht alles — oft ſehr viel, oft aber auch nur ſehr wenig, kann aus einem genauen Schatten-
riſſe von dem Charakter eines Menſchen geſehen werden.

Jch bin geſonnen, eine Menge Schattenriſſe hier vorzulegen, um dadurch, unter andern,
begreiflich zu machen, was ſich aus verſchiedenen bloßen Umriſſen menſchlicher Geſichter mit Si-
cherheit und Wahrſcheinlichkeit ſchließen laſſe?

Wer alles aus dem bloßen Schattenriſſe ſehen will, iſt ſo thoͤricht, wie der, der aus dem
Waſſer eines Menſchen alle ſeine Kraͤfte und Schwachheiten, wuͤrkliche und moͤgliche Beſchwerden
errathen will; und wer nichts aus einem Schattenriſſe zu ſehen fuͤr moͤglich haͤlt, iſt dem Arzte
aͤhnlich, der ſchlechterdings kein Waſſer anſehen will.

Aber! ſo iſt nun einmal der Gang aller menſchlichen Meynungen — „Alles Ja! — oder
„alles — Nein!“ — „Von einem Aeuſſerſten zum andern“ — „Entweder alles — oder nichts“ —

Weder alles, noch nichts — laͤßt ſich aus einer bloßen Silhouette ſehen — naͤmlich von
uns
— naͤmlich in unſerer Beſchraͤnktheit. Was ein hoͤheres Weſen hiezu denken koͤnnte? Ob’s
nicht vom Umriß auf den Jnnhalt, die Figur, Elaſticitaͤt, Feuer, Kraft, Beweglichkeit, Le-
ben der Naſe, des Mundes, der Augen — von dieſen auf den ganzen Charakter, die wuͤrklichen,
die moͤglichen Leidenſchaften ſchließen, ſicher ſchließen, im Schattenbild den ganzen Menſchen ſe-
hen koͤnne? das will ich nicht entſcheiden. Aber unmoͤglich ſcheint es mir gar nicht. Nicht nur
nicht unmoͤglich! hoͤchſt wahrſcheinlich! etwas davon iſt — ſo gar den gemeinſten Menſchen moͤg-
lich. Beweiſe werden wir bald anfuͤhren.

Wahr iſt’s, uͤber viele Silhouetten, bisweilen ſelbſt von auſſerordentlichen Menſchen, weiß
man, weiß wenigſtens ich, ſo viel als nichts zu ſagen. — Aber alle dieſe auſſerordentlichen Men-
ſchen, denen man’s nicht wohl in der Silhouette anſieht, daß ſie ſich auszeichnen — ſehen
dennoch

Bloß
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[94/0122] XII. Fragment. Zwoͤlftes Fragment. Wie viel man aus den Schattenriſſen ſehen kann? Nicht alles — oft ſehr viel, oft aber auch nur ſehr wenig, kann aus einem genauen Schatten- riſſe von dem Charakter eines Menſchen geſehen werden. Jch bin geſonnen, eine Menge Schattenriſſe hier vorzulegen, um dadurch, unter andern, begreiflich zu machen, was ſich aus verſchiedenen bloßen Umriſſen menſchlicher Geſichter mit Si- cherheit und Wahrſcheinlichkeit ſchließen laſſe? Wer alles aus dem bloßen Schattenriſſe ſehen will, iſt ſo thoͤricht, wie der, der aus dem Waſſer eines Menſchen alle ſeine Kraͤfte und Schwachheiten, wuͤrkliche und moͤgliche Beſchwerden errathen will; und wer nichts aus einem Schattenriſſe zu ſehen fuͤr moͤglich haͤlt, iſt dem Arzte aͤhnlich, der ſchlechterdings kein Waſſer anſehen will. Aber! ſo iſt nun einmal der Gang aller menſchlichen Meynungen — „Alles Ja! — oder „alles — Nein!“ — „Von einem Aeuſſerſten zum andern“ — „Entweder alles — oder nichts“ — Weder alles, noch nichts — laͤßt ſich aus einer bloßen Silhouette ſehen — naͤmlich von uns — naͤmlich in unſerer Beſchraͤnktheit. Was ein hoͤheres Weſen hiezu denken koͤnnte? Ob’s nicht vom Umriß auf den Jnnhalt, die Figur, Elaſticitaͤt, Feuer, Kraft, Beweglichkeit, Le- ben der Naſe, des Mundes, der Augen — von dieſen auf den ganzen Charakter, die wuͤrklichen, die moͤglichen Leidenſchaften ſchließen, ſicher ſchließen, im Schattenbild den ganzen Menſchen ſe- hen koͤnne? das will ich nicht entſcheiden. Aber unmoͤglich ſcheint es mir gar nicht. Nicht nur nicht unmoͤglich! hoͤchſt wahrſcheinlich! etwas davon iſt — ſo gar den gemeinſten Menſchen moͤg- lich. Beweiſe werden wir bald anfuͤhren. Wahr iſt’s, uͤber viele Silhouetten, bisweilen ſelbſt von auſſerordentlichen Menſchen, weiß man, weiß wenigſtens ich, ſo viel als nichts zu ſagen. — Aber alle dieſe auſſerordentlichen Men- ſchen, denen man’s nicht wohl in der Silhouette anſieht, daß ſie ſich auszeichnen — ſehen dennoch Bloß

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/122>, abgerufen am 21.11.2024.