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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XII. Fragment.

Jch getraute mir, und ich werd' es vielleicht noch thun, zwey idealische Schattenrisse
gegen einander zu setzen, -- wovon der Eine allgemeinen Abscheu, und der andere allgemeinen
Glauben und Liebe sogleich erwerben würde. Noch dürft' es eben kein Christus und Belial
seyn -- -- doch ich verspare das mehrere auf den letzten Theil.

So viel von diesem. Nun die Frage:

"Welche Charaktere zeichnen sich in dem Schatten am meisten aus? -- Was zeigt die
"Silhouette am deutlichsten? bestimmtesten?" --

Hier Fragment einer Antwort.

Am bezeichnetesten sind die Silhouetten von zornmüthigen und sehr sanften; von äusserst
eigensinnigen und sehr weichen; von tiefforschenden oder nur sanft auf die Oberfläche tretenden
Charaktern.

Stolz und Demuth -- drücken sich in der Silhouette viel eher aus, als Eitelkeit.

Natürliche Güte, natürliche innere Kraft, Weichlichkeit, Sinnlichkeit im hohen Gra-
de -- vorzüglich aber kindliche Unschuld, drücken sich in der Silhouette sehr gut aus.

Großer Verstand -- eher als große Dummheit. Tiefer Verstand viel eher, als heller.

Schöpferische Kraft eher, als der größte Reichthum der Jdeen. Besonders im Umrisse
der Stirn und des Augknochens.

Und nun noch ein Paar Anmerkungen über Silhouetten, und die Weise, sie zu beobach-
ten. Zuerst eine kleine Classisikation von Linien, welche die menschlichen Gesichter zu bestim-
men und zu begränzen pflegen.

Perpendikulare -- lockere perpendikulare, hart gespannte! So vorwärts sin-
kende; so zurückstrebende! gerade -- weiche Linien -- gebogne, gespannte, wellenför-
mige Sektionen von Zirkeln -- von Parabolen, Hyperbolen; konkave, konvexe, ge-
brochne, eckigte -- gepreßte, gedehnte, zusammengesetzte, homogene, heteroge-
ne -- kontrastirende!
-- Diese alle, wie rein können diese durch den Schatten ausgedrückt
werden, und wie mannichfaltig, bestimmt und sicher ist ihre Bedeutung!

Man kann an jeder Silhouette 9. horizontale Hauptabschnitte bemerken.

1.) Den
XII. Fragment.

Jch getraute mir, und ich werd’ es vielleicht noch thun, zwey idealiſche Schattenriſſe
gegen einander zu ſetzen, — wovon der Eine allgemeinen Abſcheu, und der andere allgemeinen
Glauben und Liebe ſogleich erwerben wuͤrde. Noch duͤrft’ es eben kein Chriſtus und Belial
ſeyn — — doch ich verſpare das mehrere auf den letzten Theil.

So viel von dieſem. Nun die Frage:

„Welche Charaktere zeichnen ſich in dem Schatten am meiſten aus? — Was zeigt die
„Silhouette am deutlichſten? beſtimmteſten?“ —

Hier Fragment einer Antwort.

Am bezeichneteſten ſind die Silhouetten von zornmuͤthigen und ſehr ſanften; von aͤuſſerſt
eigenſinnigen und ſehr weichen; von tiefforſchenden oder nur ſanft auf die Oberflaͤche tretenden
Charaktern.

Stolz und Demuth — druͤcken ſich in der Silhouette viel eher aus, als Eitelkeit.

Natuͤrliche Guͤte, natuͤrliche innere Kraft, Weichlichkeit, Sinnlichkeit im hohen Gra-
de — vorzuͤglich aber kindliche Unſchuld, druͤcken ſich in der Silhouette ſehr gut aus.

Großer Verſtand — eher als große Dummheit. Tiefer Verſtand viel eher, als heller.

Schoͤpferiſche Kraft eher, als der groͤßte Reichthum der Jdeen. Beſonders im Umriſſe
der Stirn und des Augknochens.

Und nun noch ein Paar Anmerkungen uͤber Silhouetten, und die Weiſe, ſie zu beobach-
ten. Zuerſt eine kleine Claſſiſikation von Linien, welche die menſchlichen Geſichter zu beſtim-
men und zu begraͤnzen pflegen.

Perpendikulare — lockere perpendikulare, hart geſpannte! So vorwaͤrts ſin-
kende; ſo zuruͤckſtrebende! gerade — weiche Linien — gebogne, geſpannte, wellenfoͤr-
mige Sektionen von Zirkeln — von Parabolen, Hyperbolen; konkave, konvexe, ge-
brochne, eckigte — gepreßte, gedehnte, zuſammengeſetzte, homogene, heteroge-
ne — kontraſtirende!
— Dieſe alle, wie rein koͤnnen dieſe durch den Schatten ausgedruͤckt
werden, und wie mannichfaltig, beſtimmt und ſicher iſt ihre Bedeutung!

Man kann an jeder Silhouette 9. horizontale Hauptabſchnitte bemerken.

1.) Den
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[96/0124] XII. Fragment. Jch getraute mir, und ich werd’ es vielleicht noch thun, zwey idealiſche Schattenriſſe gegen einander zu ſetzen, — wovon der Eine allgemeinen Abſcheu, und der andere allgemeinen Glauben und Liebe ſogleich erwerben wuͤrde. Noch duͤrft’ es eben kein Chriſtus und Belial ſeyn — — doch ich verſpare das mehrere auf den letzten Theil. So viel von dieſem. Nun die Frage: „Welche Charaktere zeichnen ſich in dem Schatten am meiſten aus? — Was zeigt die „Silhouette am deutlichſten? beſtimmteſten?“ — Hier Fragment einer Antwort. Am bezeichneteſten ſind die Silhouetten von zornmuͤthigen und ſehr ſanften; von aͤuſſerſt eigenſinnigen und ſehr weichen; von tiefforſchenden oder nur ſanft auf die Oberflaͤche tretenden Charaktern. Stolz und Demuth — druͤcken ſich in der Silhouette viel eher aus, als Eitelkeit. Natuͤrliche Guͤte, natuͤrliche innere Kraft, Weichlichkeit, Sinnlichkeit im hohen Gra- de — vorzuͤglich aber kindliche Unſchuld, druͤcken ſich in der Silhouette ſehr gut aus. Großer Verſtand — eher als große Dummheit. Tiefer Verſtand viel eher, als heller. Schoͤpferiſche Kraft eher, als der groͤßte Reichthum der Jdeen. Beſonders im Umriſſe der Stirn und des Augknochens. Und nun noch ein Paar Anmerkungen uͤber Silhouetten, und die Weiſe, ſie zu beobach- ten. Zuerſt eine kleine Claſſiſikation von Linien, welche die menſchlichen Geſichter zu beſtim- men und zu begraͤnzen pflegen. Perpendikulare — lockere perpendikulare, hart geſpannte! So vorwaͤrts ſin- kende; ſo zuruͤckſtrebende! gerade — weiche Linien — gebogne, geſpannte, wellenfoͤr- mige Sektionen von Zirkeln — von Parabolen, Hyperbolen; konkave, konvexe, ge- brochne, eckigte — gepreßte, gedehnte, zuſammengeſetzte, homogene, heteroge- ne — kontraſtirende! — Dieſe alle, wie rein koͤnnen dieſe durch den Schatten ausgedruͤckt werden, und wie mannichfaltig, beſtimmt und ſicher iſt ihre Bedeutung! Man kann an jeder Silhouette 9. horizontale Hauptabſchnitte bemerken. 1.) Den

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/124>, abgerufen am 21.11.2024.