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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Schattenrisse sehen oder nicht sehen könne.

Alle sehr seltenen Stirnen, nur so viel wag' ich zu sagen, verrathen überhaupt
einen sehr seltenen Charakter.

Aber noch ein Kontrast in diesem Profile ist merkwürdig. Bis zum Augknochen scheint
Härte der Hauptausdruck zu seyn -- Diese scheint in der Nase in bloße Kraft überzugehen --
und im untern Theile des Gesichtes sich in weibliche Schwachheit auszudehnen.

Diese Gedehntheit des untern Theils dieses Profils, die zwar Güte und zum Theil edle
jungfräuliche Schaam zeigt, schwächt die Härte der Stirne.

4. Die Stirn in dieser ungespannten Geradheit, dieser zurückgehenden Schiefheit, die
Unbemerkbarkeit des Augkochens, die Größe und Unbeschnittenheit der Nase zeigt mehr klugen, als
philosophischen Verstand; allenfalls mehr Witz, als Jmagination. Mehr Jmagination, als poe-
tisches Gefühl. Jm Untertheile des Gesichtes meyn' ich Klugheit, Bedächtlichkeit, Verschlossen-
heit zu erblicken.

5. Lichtheller, denkender, entwickelnder, fortdringender, unüberwindlicher Verstand, der
die Wahrheit, den Jrrthum und das Gemisch von beyden schnell und tief fühlt und sondert; was
er erkennt, fest hält. Ein Mann, sehr gegenwärtig, wo er spricht und würkt. Voll Redlichkeit,
Entschlossenheit, Ständigkeit, Kraft -- viel Witz, wenig Jmagination, noch weniger poetisches
Gefühl. Enthusiasmus des Verstandes und kluger Geschäfftigkeit -- nicht poetisch romanischer. --
Das sind einige Hauptzüge des Mannes, dessen Silhouette wir vor uns haben. -- Was sieht man
denn in der Silhouette? -- -- Der natürliche Physiognomist entdeckt im Ganzen bloß Verstand und
Entschlossenheit -- und der künstliche? der beobachtende Forscher? -- Jn der kurzen nicht merkbar
zurückliegenden Stirne die Wenigkeit der Jmagination. Jn der Nase schnelle Unterscheidungskraft
des Hellen und Dunkeln in Begriffen -- Jn dem Munde trockne kunstlose Verstandesfestigkeit --
Jm Kinn? Weisheit und Treue.

6. Jch kenn' ihn nicht -- Mir scheint er mit dem vorüberstehenden darinn zu kontrastiren,
daß er mehr ruhigen Witz und weniger Entschlossenheit zu haben scheint. Bis unter die Nase ist's
ein ausserordentlich vortheilhaftes Profil. Der untere Theil scheint mir mehr Ausdruck von lang-
samer Bedächtlichkeit, netter, reinlicher Sonderungsgeduld und richtig reihender Ordnungs-
liebe.

Nachste-
N 3
Schattenriſſe ſehen oder nicht ſehen koͤnne.

Alle ſehr ſeltenen Stirnen, nur ſo viel wag’ ich zu ſagen, verrathen uͤberhaupt
einen ſehr ſeltenen Charakter.

Aber noch ein Kontraſt in dieſem Profile iſt merkwuͤrdig. Bis zum Augknochen ſcheint
Haͤrte der Hauptausdruck zu ſeyn — Dieſe ſcheint in der Naſe in bloße Kraft uͤberzugehen —
und im untern Theile des Geſichtes ſich in weibliche Schwachheit auszudehnen.

Dieſe Gedehntheit des untern Theils dieſes Profils, die zwar Guͤte und zum Theil edle
jungfraͤuliche Schaam zeigt, ſchwaͤcht die Haͤrte der Stirne.

4. Die Stirn in dieſer ungeſpannten Geradheit, dieſer zuruͤckgehenden Schiefheit, die
Unbemerkbarkeit des Augkochens, die Groͤße und Unbeſchnittenheit der Naſe zeigt mehr klugen, als
philoſophiſchen Verſtand; allenfalls mehr Witz, als Jmagination. Mehr Jmagination, als poe-
tiſches Gefuͤhl. Jm Untertheile des Geſichtes meyn’ ich Klugheit, Bedaͤchtlichkeit, Verſchloſſen-
heit zu erblicken.

5. Lichtheller, denkender, entwickelnder, fortdringender, unuͤberwindlicher Verſtand, der
die Wahrheit, den Jrrthum und das Gemiſch von beyden ſchnell und tief fuͤhlt und ſondert; was
er erkennt, feſt haͤlt. Ein Mann, ſehr gegenwaͤrtig, wo er ſpricht und wuͤrkt. Voll Redlichkeit,
Entſchloſſenheit, Staͤndigkeit, Kraft — viel Witz, wenig Jmagination, noch weniger poetiſches
Gefuͤhl. Enthuſiasmus des Verſtandes und kluger Geſchaͤfftigkeit — nicht poetiſch romaniſcher. —
Das ſind einige Hauptzuͤge des Mannes, deſſen Silhouette wir vor uns haben. — Was ſieht man
denn in der Silhouette? — — Der natuͤrliche Phyſiognomiſt entdeckt im Ganzen bloß Verſtand und
Entſchloſſenheit — und der kuͤnſtliche? der beobachtende Forſcher? — Jn der kurzen nicht merkbar
zuruͤckliegenden Stirne die Wenigkeit der Jmagination. Jn der Naſe ſchnelle Unterſcheidungskraft
des Hellen und Dunkeln in Begriffen — Jn dem Munde trockne kunſtloſe Verſtandesfeſtigkeit —
Jm Kinn? Weisheit und Treue.

6. Jch kenn’ ihn nicht — Mir ſcheint er mit dem voruͤberſtehenden darinn zu kontraſtiren,
daß er mehr ruhigen Witz und weniger Entſchloſſenheit zu haben ſcheint. Bis unter die Naſe iſt’s
ein auſſerordentlich vortheilhaftes Profil. Der untere Theil ſcheint mir mehr Ausdruck von lang-
ſamer Bedaͤchtlichkeit, netter, reinlicher Sonderungsgeduld und richtig reihender Ordnungs-
liebe.

Nachſte-
N 3
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[101/0131] Schattenriſſe ſehen oder nicht ſehen koͤnne. Alle ſehr ſeltenen Stirnen, nur ſo viel wag’ ich zu ſagen, verrathen uͤberhaupt einen ſehr ſeltenen Charakter. Aber noch ein Kontraſt in dieſem Profile iſt merkwuͤrdig. Bis zum Augknochen ſcheint Haͤrte der Hauptausdruck zu ſeyn — Dieſe ſcheint in der Naſe in bloße Kraft uͤberzugehen — und im untern Theile des Geſichtes ſich in weibliche Schwachheit auszudehnen. Dieſe Gedehntheit des untern Theils dieſes Profils, die zwar Guͤte und zum Theil edle jungfraͤuliche Schaam zeigt, ſchwaͤcht die Haͤrte der Stirne. 4. Die Stirn in dieſer ungeſpannten Geradheit, dieſer zuruͤckgehenden Schiefheit, die Unbemerkbarkeit des Augkochens, die Groͤße und Unbeſchnittenheit der Naſe zeigt mehr klugen, als philoſophiſchen Verſtand; allenfalls mehr Witz, als Jmagination. Mehr Jmagination, als poe- tiſches Gefuͤhl. Jm Untertheile des Geſichtes meyn’ ich Klugheit, Bedaͤchtlichkeit, Verſchloſſen- heit zu erblicken. 5. Lichtheller, denkender, entwickelnder, fortdringender, unuͤberwindlicher Verſtand, der die Wahrheit, den Jrrthum und das Gemiſch von beyden ſchnell und tief fuͤhlt und ſondert; was er erkennt, feſt haͤlt. Ein Mann, ſehr gegenwaͤrtig, wo er ſpricht und wuͤrkt. Voll Redlichkeit, Entſchloſſenheit, Staͤndigkeit, Kraft — viel Witz, wenig Jmagination, noch weniger poetiſches Gefuͤhl. Enthuſiasmus des Verſtandes und kluger Geſchaͤfftigkeit — nicht poetiſch romaniſcher. — Das ſind einige Hauptzuͤge des Mannes, deſſen Silhouette wir vor uns haben. — Was ſieht man denn in der Silhouette? — — Der natuͤrliche Phyſiognomiſt entdeckt im Ganzen bloß Verſtand und Entſchloſſenheit — und der kuͤnſtliche? der beobachtende Forſcher? — Jn der kurzen nicht merkbar zuruͤckliegenden Stirne die Wenigkeit der Jmagination. Jn der Naſe ſchnelle Unterſcheidungskraft des Hellen und Dunkeln in Begriffen — Jn dem Munde trockne kunſtloſe Verſtandesfeſtigkeit — Jm Kinn? Weisheit und Treue. 6. Jch kenn’ ihn nicht — Mir ſcheint er mit dem voruͤberſtehenden darinn zu kontraſtiren, daß er mehr ruhigen Witz und weniger Entſchloſſenheit zu haben ſcheint. Bis unter die Naſe iſt’s ein auſſerordentlich vortheilhaftes Profil. Der untere Theil ſcheint mir mehr Ausdruck von lang- ſamer Bedaͤchtlichkeit, netter, reinlicher Sonderungsgeduld und richtig reihender Ordnungs- liebe. Nachſte- N 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/131>, abgerufen am 21.11.2024.