Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.Schattenrissen sehen lasse. und Männer von innerer Kraft und Fruchtbarkeit -- das heißt: Jch habe noch keinen einzigenauch noch so produktifen Frauenkopf mit einer solchen Stirne gesehen; und wo ich diese an Männern sah, da war immer innige, tiefe, arbeitende, zeugende Kraft. Die Stirn der Frau hingegen -- hab' ich auch schon an ausserordentlich scharfsinnigen Männern bemerkt .... Man zeige mir den Dummkopf, den mittelmäßigen Kopf, die unempfindliche, unedle, harte, Der Umriß des Mundes? -- Seht hier einen Beweis von dem, was ich oben sagte: Man Nachstehende Vignette -- von einer der reinsten, unschuldigsten, innigsten, verschlossen- vornen Phys. Fragm. II Versuch. P
Schattenriſſen ſehen laſſe. und Maͤnner von innerer Kraft und Fruchtbarkeit — das heißt: Jch habe noch keinen einzigenauch noch ſo produktifen Frauenkopf mit einer ſolchen Stirne geſehen; und wo ich dieſe an Maͤnnern ſah, da war immer innige, tiefe, arbeitende, zeugende Kraft. Die Stirn der Frau hingegen — hab’ ich auch ſchon an auſſerordentlich ſcharfſinnigen Maͤnnern bemerkt .... Man zeige mir den Dummkopf, den mittelmaͤßigen Kopf, die unempfindliche, unedle, harte, Der Umriß des Mundes? — Seht hier einen Beweis von dem, was ich oben ſagte: Man Nachſtehende Vignette — von einer der reinſten, unſchuldigſten, innigſten, verſchloſſen- vornen Phyſ. Fragm. II Verſuch. P
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Schattenriſſen ſehen laſſe.
und Maͤnner von innerer Kraft und Fruchtbarkeit — das heißt: Jch habe noch keinen einzigen
auch noch ſo produktifen Frauenkopf mit einer ſolchen Stirne geſehen; und wo ich dieſe an Maͤnnern
ſah, da war immer innige, tiefe, arbeitende, zeugende Kraft. Die Stirn der Frau hingegen —
hab’ ich auch ſchon an auſſerordentlich ſcharfſinnigen Maͤnnern bemerkt ....
Man zeige mir den Dummkopf, den mittelmaͤßigen Kopf, die unempfindliche, unedle, harte,
rohe Seele, gerade mit einer ſolchen Stirne. Es ſey denn, daß auffallende widerſprechende Zei-
chen unwiderſprechlich zugleich mit daſeyn — und ich will alle Phyſiognomik Preis geben. Wenn
dieſe Aeuſſerung, die ich mit guter Ueberlegung thue, nicht Aufmerkſamkeit auf die Wahrheitsſprache
der Natur weckt — ſo liegt’s nicht an mir.
Der Umriß des Mundes? — Seht hier einen Beweis von dem, was ich oben ſagte: Man
darf die feinſten bedeutungsvollſten Zuͤge von delikaten Charaktern im Graͤnzumriſſe oft nur um
ein Haar verfehlen, ſo werden ſie gemein — dieß iſt beſonders von dem Umriſſe der Lippen
wahr. Nur ein Paar weggeſchliffne, abgeſtumpfte Eckgen, Winkelgen im Munde — nur eine
vollkommne Rundung — wie vergroͤbern dieſe oft das feinſte himmliſche Geſichte! Eine Stirn
mit dieſer ſcharfen Ecke — kann unmoͤglich im Schattenprofile ſo runde ungebrochne Lippen ha-
ben. Die kleinſte Brechung in dieſem Umriſſe iſt von vortheilhafter Bedeutung. — Aber auch
ſo, wie die Lippe itzt — auch ſo iſt ſie Ausdruck von der edelſten innigſten Stille, und Ruhe
des Charakters. Eines Charakters, uͤber den man eigentlich nichts ſagen kann, das nicht eine
Art von Entheiligung ſey.
Nachſtehende Vignette — von einer der reinſten, unſchuldigſten, innigſten, verſchloſſen-
ſten, empfaͤnglichſten Seelen! voll Leidenskraft — und Schmerzensempfaͤnglichkeit. Der Um-
riß der Naſe mit dem Uebergange zur Oberlippe, obwohl ſie hier nicht in dem gluͤcklichſten Au-
genblicke gezeichnet iſt, graͤnzt ans erhabne Jdeal. Jch ſetze dieß Bild hier hin, weil die ſelige
Mutter dieſer engliſchen Tochter, ſo viel ich mich noch erinnern kann, den ſcharfen Augknochen
ausgenommen, im Ganzen betrachtet viel Aehnlichkeit mit dem weiblichen Umriſſe hatte, den wir
ſo eben betrachtet haben — und ebenfalls eine der demuͤthigſten, edelſten, leidensfaͤhigſten, ge-
duldigſten, reinſten, verſchloſſenſten, ſtillerhabenſten Seelen war. Das Antike in dem Umriſſe
der Tochter ſcheint von dem Vater herzuruͤhren, der, wenn er nicht pockennarbig waͤre, von
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