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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Schattenrissen sehen lasse.

Köpfe von merklicher Verschiedenheit des Charakters.

Jch wählte also vier Kahlköpfe von sehr ungleichen Fähigkeiten -- und wie merkwür-
dig war ihre Aehnlichkeit und ihre Verschiedenheit!

Den ersten kenn' ich als einen lebhaften, schnellen, sanften, heftigen, äusserst reizbaren,
elastischen, empfindsamen, thätigen Charakter. Ein länglichter schlanker Jüngling voll Bon-
homie, treffender Würksamkeit -- und der kühnsten Einbildungskraft. Er ist kein Kahlkopf.
Man band ihm die flachgekämmten Haare hinten zusammen, daher der obere Theil des Umrisses
nicht vollkommen rein ist.

Der zweyte ist nicht so schlank, so gedehnt -- weniger schnellthätig, obgleich äusserst
fleißig! -- nicht so heiter, so leichtsinnig; aber ruhiger, wie der erste, und fester, einfacher, tie-
fer. Voll Verstand und Empfindsamkeit. Die unverführbarste Vernunft -- unerschöpflich an
Witz -- aber schwachen Gedächtnisses!

Der dritte -- ein Mann von prüfendem -- aber nicht tiefforschendem Verstande. Sein
Geist ist Licht, nicht Blitz -- Abendlicht, nicht Mittaglicht. Er hat Geschmack, das beste
Gedächtniß;
wenige schöpferische, aber sehr heitere Einbildungskraft.

Der vierte ist ein förmlicher Dummkopf, dem alles zu fehlen scheint, was die drey vori-
gen haben. Jch kenn' ihn nicht persönlich; aber ein in allen Absichten sehr zuverlässiger Mann
versichert mich dessen; und ich kann's glauben.

Man vergleiche nun 4. mit allen dreyen, und die drey ersten mit dem vierten.

1. -- Der schnellste, -- und hat den längsten und schlanksten Hals. Weniger schnell ist
2. und hat einen etwas kürzern dickern Hals. 3. weniger schnell als 2, und wiederum einen kür-
zern Hals. 4. ist beynahe Fleisch ohne Geist -- und scheint gar keinen Hals zu haben.

Auch ist das Zusammengedrückte, Eyförmige, Zugespitzte des Kopfes in 4. auffallend und
merkwürdig.

Jch
R 3
Schattenriſſen ſehen laſſe.

Koͤpfe von merklicher Verſchiedenheit des Charakters.

Jch waͤhlte alſo vier Kahlkoͤpfe von ſehr ungleichen Faͤhigkeiten — und wie merkwuͤr-
dig war ihre Aehnlichkeit und ihre Verſchiedenheit!

Den erſten kenn’ ich als einen lebhaften, ſchnellen, ſanften, heftigen, aͤuſſerſt reizbaren,
elaſtiſchen, empfindſamen, thaͤtigen Charakter. Ein laͤnglichter ſchlanker Juͤngling voll Bon-
homie, treffender Wuͤrkſamkeit — und der kuͤhnſten Einbildungskraft. Er iſt kein Kahlkopf.
Man band ihm die flachgekaͤmmten Haare hinten zuſammen, daher der obere Theil des Umriſſes
nicht vollkommen rein iſt.

Der zweyte iſt nicht ſo ſchlank, ſo gedehnt — weniger ſchnellthaͤtig, obgleich aͤuſſerſt
fleißig! — nicht ſo heiter, ſo leichtſinnig; aber ruhiger, wie der erſte, und feſter, einfacher, tie-
fer. Voll Verſtand und Empfindſamkeit. Die unverfuͤhrbarſte Vernunft — unerſchoͤpflich an
Witz — aber ſchwachen Gedaͤchtniſſes!

Der dritte — ein Mann von pruͤfendem — aber nicht tiefforſchendem Verſtande. Sein
Geiſt iſt Licht, nicht Blitz — Abendlicht, nicht Mittaglicht. Er hat Geſchmack, das beſte
Gedaͤchtniß;
wenige ſchoͤpferiſche, aber ſehr heitere Einbildungskraft.

Der vierte iſt ein foͤrmlicher Dummkopf, dem alles zu fehlen ſcheint, was die drey vori-
gen haben. Jch kenn’ ihn nicht perſoͤnlich; aber ein in allen Abſichten ſehr zuverlaͤſſiger Mann
verſichert mich deſſen; und ich kann’s glauben.

Man vergleiche nun 4. mit allen dreyen, und die drey erſten mit dem vierten.

1. — Der ſchnellſte, — und hat den laͤngſten und ſchlankſten Hals. Weniger ſchnell iſt
2. und hat einen etwas kuͤrzern dickern Hals. 3. weniger ſchnell als 2, und wiederum einen kuͤr-
zern Hals. 4. iſt beynahe Fleiſch ohne Geiſt — und ſcheint gar keinen Hals zu haben.

Auch iſt das Zuſammengedruͤckte, Eyfoͤrmige, Zugeſpitzte des Kopfes in 4. auffallend und
merkwuͤrdig.

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[133/0191] Schattenriſſen ſehen laſſe. Koͤpfe von merklicher Verſchiedenheit des Charakters. Jch waͤhlte alſo vier Kahlkoͤpfe von ſehr ungleichen Faͤhigkeiten — und wie merkwuͤr- dig war ihre Aehnlichkeit und ihre Verſchiedenheit! Den erſten kenn’ ich als einen lebhaften, ſchnellen, ſanften, heftigen, aͤuſſerſt reizbaren, elaſtiſchen, empfindſamen, thaͤtigen Charakter. Ein laͤnglichter ſchlanker Juͤngling voll Bon- homie, treffender Wuͤrkſamkeit — und der kuͤhnſten Einbildungskraft. Er iſt kein Kahlkopf. Man band ihm die flachgekaͤmmten Haare hinten zuſammen, daher der obere Theil des Umriſſes nicht vollkommen rein iſt. Der zweyte iſt nicht ſo ſchlank, ſo gedehnt — weniger ſchnellthaͤtig, obgleich aͤuſſerſt fleißig! — nicht ſo heiter, ſo leichtſinnig; aber ruhiger, wie der erſte, und feſter, einfacher, tie- fer. Voll Verſtand und Empfindſamkeit. Die unverfuͤhrbarſte Vernunft — unerſchoͤpflich an Witz — aber ſchwachen Gedaͤchtniſſes! Der dritte — ein Mann von pruͤfendem — aber nicht tiefforſchendem Verſtande. Sein Geiſt iſt Licht, nicht Blitz — Abendlicht, nicht Mittaglicht. Er hat Geſchmack, das beſte Gedaͤchtniß; wenige ſchoͤpferiſche, aber ſehr heitere Einbildungskraft. Der vierte iſt ein foͤrmlicher Dummkopf, dem alles zu fehlen ſcheint, was die drey vori- gen haben. Jch kenn’ ihn nicht perſoͤnlich; aber ein in allen Abſichten ſehr zuverlaͤſſiger Mann verſichert mich deſſen; und ich kann’s glauben. Man vergleiche nun 4. mit allen dreyen, und die drey erſten mit dem vierten. 1. — Der ſchnellſte, — und hat den laͤngſten und ſchlankſten Hals. Weniger ſchnell iſt 2. und hat einen etwas kuͤrzern dickern Hals. 3. weniger ſchnell als 2, und wiederum einen kuͤr- zern Hals. 4. iſt beynahe Fleiſch ohne Geiſt — und ſcheint gar keinen Hals zu haben. Auch iſt das Zuſammengedruͤckte, Eyfoͤrmige, Zugeſpitzte des Kopfes in 4. auffallend und merkwuͤrdig. Jch R 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/191>, abgerufen am 21.11.2024.