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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Einleitung.
"Geringste im Zusammenhange des Ganzen -- wichtig, auch das Geringste -- Gottes Wort,
"d. i. Offenbarung göttlicher Weisheit und Kraft ist --"

Welche Hoffnung und Wonne, wenn ich mich dem Gedanken überlassen darf --

"Hier sitzt ein forschender Jüngling, (ein edeldenkender Reicher anvertraut' ihm mein
"Buch) in seinem einsamen Cabinete -- und blättert nicht nur flüchtig, liest mit stillem Nachden-
"ken, findet Wahrheit, freut sich der gefundnen Wahrheit -- findet schwache, unreife, unentwi-
"ckelte -- falsche Gedanken, und übt seine denkenden Kräfte -- zu ergänzen, zu entwickeln, zu be-
"richtigen -- zu verbessern -- Ein brüderlicher Freund kömmt, setzt sich neben ihn hin; steht mit
"ihm still; fliegt mit ihm fort -- -- hält ihn zurück, spornt ihn an; -- lehrt ihn, lernt von ihm --
"Menschen anschauen, Menschen kennen, Menschen lieben, Menschen nützen ..."

"Dort eine Gattinn, die ihren Gatten, ein Gatte, der seine Gattinn höher schätzen, inni-
"ger lieben lernt, weil eins an dem andern durch bessere Kenntniß der Gesichtszüge gleichsam neue
"Schätze würklicher oder noch verborgner Trefflichkeiten entdeckt. --"

"Dort -- ein Lehrer der Jugend, ein weisdenkender Vater, der auf seine Schüler, seine
"Kinder, den Bau und die Gestalt ihrer Körper, die Gränzlinien ihres Gesichtes, ihre Mienen
"und Gebehrden, ihren Gang und ihre Handschrift aufmerksamer zu werden beginnt, und jedem
"mit mehr Weisheit und Wahl das zumißt, weß er fähig ist; das von ihm fordert und erwartet,
"was er zu geben vermögend ist."

"Dort ein Freundesuchender Jüngling -- Ein Mann, der sich eine Gattinn nach seinem
"Herzen und nach seinen Bedürfnissen wünscht -- Ein Vater, der seinen Kindern einen Lehrer --
"Ein Mann von Geschäfften, der sich einen Haushofmeister, einen Gehülfen; ein Minister, der
"sich einen weisen, klugen, treuen Geheimschreiber -- Ein Fürst vielleicht, der sich einen unbe-
"stechlichen, redlichen, erfahrnen, uneigennützigen Minister wünscht -- oder die guten, welche er
"hat, richtiger schätzen, die schlimmen, tiefer kennen lernt --"

-- "Und allemal -- so oft solche Würkungen entstehen -- neue innige Freude an der
"Menschheit, und der so wahren Form der Menschheit! --"

Wenn solche Dinge mir vorschweben -- und alles ist gewiß nicht leerer Traum einer sich
selbst schmeichelnden Einbildung! So lebt Muth und Freude wieder in mir auf! Die Unruhe legt

sich

Einleitung.
„Geringſte im Zuſammenhange des Ganzen — wichtig, auch das Geringſte — Gottes Wort,
„d. i. Offenbarung goͤttlicher Weisheit und Kraft iſt —“

Welche Hoffnung und Wonne, wenn ich mich dem Gedanken uͤberlaſſen darf —

„Hier ſitzt ein forſchender Juͤngling, (ein edeldenkender Reicher anvertraut’ ihm mein
„Buch) in ſeinem einſamen Cabinete — und blaͤttert nicht nur fluͤchtig, lieſt mit ſtillem Nachden-
„ken, findet Wahrheit, freut ſich der gefundnen Wahrheit — findet ſchwache, unreife, unentwi-
„ckelte — falſche Gedanken, und uͤbt ſeine denkenden Kraͤfte — zu ergaͤnzen, zu entwickeln, zu be-
„richtigen — zu verbeſſern — Ein bruͤderlicher Freund koͤmmt, ſetzt ſich neben ihn hin; ſteht mit
„ihm ſtill; fliegt mit ihm fort — — haͤlt ihn zuruͤck, ſpornt ihn an; — lehrt ihn, lernt von ihm —
Menſchen anſchauen, Menſchen kennen, Menſchen lieben, Menſchen nuͤtzen ...“

„Dort eine Gattinn, die ihren Gatten, ein Gatte, der ſeine Gattinn hoͤher ſchaͤtzen, inni-
„ger lieben lernt, weil eins an dem andern durch beſſere Kenntniß der Geſichtszuͤge gleichſam neue
„Schaͤtze wuͤrklicher oder noch verborgner Trefflichkeiten entdeckt. —“

„Dort — ein Lehrer der Jugend, ein weisdenkender Vater, der auf ſeine Schuͤler, ſeine
„Kinder, den Bau und die Geſtalt ihrer Koͤrper, die Graͤnzlinien ihres Geſichtes, ihre Mienen
„und Gebehrden, ihren Gang und ihre Handſchrift aufmerkſamer zu werden beginnt, und jedem
„mit mehr Weisheit und Wahl das zumißt, weß er faͤhig iſt; das von ihm fordert und erwartet,
„was er zu geben vermoͤgend iſt.“

„Dort ein Freundeſuchender Juͤngling — Ein Mann, der ſich eine Gattinn nach ſeinem
„Herzen und nach ſeinen Beduͤrfniſſen wuͤnſcht — Ein Vater, der ſeinen Kindern einen Lehrer —
„Ein Mann von Geſchaͤfften, der ſich einen Haushofmeiſter, einen Gehuͤlfen; ein Miniſter, der
„ſich einen weiſen, klugen, treuen Geheimſchreiber — Ein Fuͤrſt vielleicht, der ſich einen unbe-
„ſtechlichen, redlichen, erfahrnen, uneigennuͤtzigen Miniſter wuͤnſcht — oder die guten, welche er
„hat, richtiger ſchaͤtzen, die ſchlimmen, tiefer kennen lernt —“

— „Und allemal — ſo oft ſolche Wuͤrkungen entſtehen — neue innige Freude an der
„Menſchheit, und der ſo wahren Form der Menſchheit! —“

Wenn ſolche Dinge mir vorſchweben — und alles iſt gewiß nicht leerer Traum einer ſich
ſelbſt ſchmeichelnden Einbildung! So lebt Muth und Freude wieder in mir auf! Die Unruhe legt

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/20>, abgerufen am 21.11.2024.