Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.XIV. Fragment. Menschenschädel. Dieselbe Kraft kann wie derselbe Reichthum zum Nutzen oder Schaden der mensch- Wo also an einem Schädel große Urkraft und Stoßkraft bemerkt wird, da kann man -- So läßt sich von gewissen bloßen Schädeln sagen: "der ganze Bau, die Form, das Zarte, O dieselbe Kraft, dieselbe Empfindlichkeit, dieselbe Empfänglichkeit -- wie ungleich kann Und eben hieraus läßt sich die Möglichkeit -- von Prädestination und Freyheit, in Einem Man führe den gemeinsten Menschen zu einem Beinhaus, und mache ihn einigermaßen Cäsars
XIV. Fragment. Menſchenſchaͤdel. Dieſelbe Kraft kann wie derſelbe Reichthum zum Nutzen oder Schaden der menſch- Wo alſo an einem Schaͤdel große Urkraft und Stoßkraft bemerkt wird, da kann man — So laͤßt ſich von gewiſſen bloßen Schaͤdeln ſagen: „der ganze Bau, die Form, das Zarte, O dieſelbe Kraft, dieſelbe Empfindlichkeit, dieſelbe Empfaͤnglichkeit — wie ungleich kann Und eben hieraus laͤßt ſich die Moͤglichkeit — von Praͤdeſtination und Freyheit, in Einem Man fuͤhre den gemeinſten Menſchen zu einem Beinhaus, und mache ihn einigermaßen Caͤſars
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0210" n="150"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Fragment. Menſchenſchaͤdel.</hi> </fw><lb/> <p>Dieſelbe <hi rendition="#fr">Kraft</hi> kann wie derſelbe <hi rendition="#fr">Reichthum</hi> zum Nutzen oder Schaden der menſch-<lb/> lichen Geſellſchaft angewandt werden. Mit demſelben Reichthume kann einer ein Heiliger, oder<lb/> ein Teufel werden. Wie mit dem Reichthum, oder willkuͤhrlicher und poſitifer Kraft — ſo mit<lb/> natuͤrlicher, angeborner Kraft. Wie von hundert Reichen neun und neunzig keine Heilige wer-<lb/> den, ſo kaum Einer unter hundert Menſchen von entſchiedener Urkraft.</p><lb/> <p>Wo alſo an einem Schaͤdel große Urkraft und Stoßkraft bemerkt wird, da kann man —<lb/> freylich nicht ſagen: „das iſt ein Spitzbube!“ — aber man kann ſagen — „hier war Ueberfluß<lb/> „von Stoßkraft, ohne einſchraͤnkende coexiſtirende Beſaͤnftigungen; — es iſt alſo die hoͤchſte Wahr-<lb/> „ſcheinlichkeit — der hatte <hi rendition="#fr">Eroberungsgeiſt</hi> — war entweder ein General und Eroberer, ein <hi rendition="#fr">Caͤ-<lb/> „ſar,</hi> oder — ein Spitzbube, ein <hi rendition="#fr">Cartouche</hi> — unter ſolchen und ſolchen Umſtaͤnden hat er ver-<lb/> „muthlich ſo gehandelt — er wuͤrde unter andern Umſtaͤnden ſo, allemal aber heftig, ſtuͤrmiſch, im-<lb/> „mer als Herrſcher, Eroberer gehandelt haben. —</p><lb/> <p>So laͤßt ſich von gewiſſen bloßen Schaͤdeln ſagen: „der ganze Bau, die Form, das Zarte,<lb/> „das Pergamentaͤhnliche — zeigt klar — <hi rendition="#fr">Schwaͤche</hi> — zeigt bloß <hi rendition="#fr">Empfaͤnglichkeit</hi> ohne<lb/> „Stoßkraft, Schoͤpfungskraft — — — Jn ſolchen Umſtaͤnden alſo haͤtten dieſe Menſchen ſchwach<lb/> „gehandelt. Sie haͤtten natuͤrlicherweiſe dieſer oder jener Verſuchung nicht widerſtanden, ſie haͤt-<lb/> „ten nicht Muth genug gehabt, dieſes oder jenes zu unternehmen. Jn der großen Welt waͤren ſie<lb/> „Dirnen — auf einem kleinen Edelhofe verliebt, in einem Kloſter ſchwaͤrmeriſche Heilige ge-<lb/> „worden.“ —</p><lb/> <p>O dieſelbe Kraft, dieſelbe Empfindlichkeit, dieſelbe Empfaͤnglichkeit — wie ungleich kann<lb/> ſie wuͤrken? wie ungleich empfinden? wie ungleich empfangen?</p><lb/> <p>Und eben hieraus laͤßt ſich die Moͤglichkeit — von Praͤdeſtination und Freyheit, in Einem<lb/> und demſelben Subjekte zum Theil begreifen.</p><lb/> <p>Man fuͤhre den gemeinſten Menſchen zu einem Beinhaus, und mache ihn einigermaßen<lb/> auf die Verſchiedenheit der Schaͤdel aufmerkſam ... Jn kurzer Zeit wird er’s entweder ſelber<lb/> finden, oder doch begreifen, wenn man es ihm ſagt: „hier iſt Schwaͤche — dort Staͤrke! — hier<lb/> „Eigenſinn — dort Wankelmuth!“ —</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#fr">Caͤſars</hi> </fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [150/0210]
XIV. Fragment. Menſchenſchaͤdel.
Dieſelbe Kraft kann wie derſelbe Reichthum zum Nutzen oder Schaden der menſch-
lichen Geſellſchaft angewandt werden. Mit demſelben Reichthume kann einer ein Heiliger, oder
ein Teufel werden. Wie mit dem Reichthum, oder willkuͤhrlicher und poſitifer Kraft — ſo mit
natuͤrlicher, angeborner Kraft. Wie von hundert Reichen neun und neunzig keine Heilige wer-
den, ſo kaum Einer unter hundert Menſchen von entſchiedener Urkraft.
Wo alſo an einem Schaͤdel große Urkraft und Stoßkraft bemerkt wird, da kann man —
freylich nicht ſagen: „das iſt ein Spitzbube!“ — aber man kann ſagen — „hier war Ueberfluß
„von Stoßkraft, ohne einſchraͤnkende coexiſtirende Beſaͤnftigungen; — es iſt alſo die hoͤchſte Wahr-
„ſcheinlichkeit — der hatte Eroberungsgeiſt — war entweder ein General und Eroberer, ein Caͤ-
„ſar, oder — ein Spitzbube, ein Cartouche — unter ſolchen und ſolchen Umſtaͤnden hat er ver-
„muthlich ſo gehandelt — er wuͤrde unter andern Umſtaͤnden ſo, allemal aber heftig, ſtuͤrmiſch, im-
„mer als Herrſcher, Eroberer gehandelt haben. —
So laͤßt ſich von gewiſſen bloßen Schaͤdeln ſagen: „der ganze Bau, die Form, das Zarte,
„das Pergamentaͤhnliche — zeigt klar — Schwaͤche — zeigt bloß Empfaͤnglichkeit ohne
„Stoßkraft, Schoͤpfungskraft — — — Jn ſolchen Umſtaͤnden alſo haͤtten dieſe Menſchen ſchwach
„gehandelt. Sie haͤtten natuͤrlicherweiſe dieſer oder jener Verſuchung nicht widerſtanden, ſie haͤt-
„ten nicht Muth genug gehabt, dieſes oder jenes zu unternehmen. Jn der großen Welt waͤren ſie
„Dirnen — auf einem kleinen Edelhofe verliebt, in einem Kloſter ſchwaͤrmeriſche Heilige ge-
„worden.“ —
O dieſelbe Kraft, dieſelbe Empfindlichkeit, dieſelbe Empfaͤnglichkeit — wie ungleich kann
ſie wuͤrken? wie ungleich empfinden? wie ungleich empfangen?
Und eben hieraus laͤßt ſich die Moͤglichkeit — von Praͤdeſtination und Freyheit, in Einem
und demſelben Subjekte zum Theil begreifen.
Man fuͤhre den gemeinſten Menſchen zu einem Beinhaus, und mache ihn einigermaßen
auf die Verſchiedenheit der Schaͤdel aufmerkſam ... Jn kurzer Zeit wird er’s entweder ſelber
finden, oder doch begreifen, wenn man es ihm ſagt: „hier iſt Schwaͤche — dort Staͤrke! — hier
„Eigenſinn — dort Wankelmuth!“ —
Caͤſars
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |