Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

Bild:
<< vorherige Seite

XVI. Fragment.
unter dreyhunderten kaum Ein Krüppel. Aber auch dieser Krüppel, dieser Thor, dieser Zwerg,
dieser Riese -- sie alle noch Zeugen der mannichfaltigen Huld und Weisheit dessen, der alles
schafft zu seines Namens Preise ... Sie alle leben -- und freuen sich des Lebens ... und
wehren sich gegen den, der's ihnen rauben will. --

Sie alle sind wenigstens noch, auch nur als Ausnahmen von der Regel betrachtet, würdige,
nützliche Produkte. -- Opfer für dich und mich Gesunden, Vernünftigen -- da, daß Gottes
Kraft einst an ihnen offenbar würde
-- *) da, daß wir anbeten den, der uns -- ohn' un-
ser Wollen oder Laufen -- besser bildete, zu erkennen Jhn und die Kraft seiner allwürksamen
Gottheit.

Also -- gesunder, gerader, verständiger, edler Mensch, schaue sie an deine schwächern Mit-
geschöpfe, aber verachte sie nicht! Du bist Mensch, und sie sind's nicht minder, und in den Augen
höherer Wesen bist du, was diese in den deinigen sind -- Aller Augen erleuchtet der Herr .. Sie
athmen unsere Luft, und wärmen sich am Stral unserer Sonne.

O ihr Gegenstände menschlicher Verachtung und des stolzen unbrüderlichen Spottes --
wie kann ich Eure glücklichern Brüder mit Euch unglücklichern versöhnen? -- wer sie verachtet,
laßt michs, Leser, noch einmal Euch zurufen, der schmäht ihren Schöpfer.

Und du -- der dem Lahmen, der 40. Jahre nie gewandelt hatte, Leben und Schnellkraft
gab -- dem Tauben Gehör, dem Stummen Sprache, und allen Weisen Weisheit! O du, der
alles neu machen und jedes nach Gerechtigkeit richten wird, wenn die Himmel wie eine Rolle sich
zusammen rollen, und die Erde mit allen ihren Produkten zerschmelzen wird! O du -- mit wel-

chen
*) Joh. IX. 3.

XVI. Fragment.
unter dreyhunderten kaum Ein Kruͤppel. Aber auch dieſer Kruͤppel, dieſer Thor, dieſer Zwerg,
dieſer Rieſe — ſie alle noch Zeugen der mannichfaltigen Huld und Weisheit deſſen, der alles
ſchafft zu ſeines Namens Preiſe ... Sie alle leben — und freuen ſich des Lebens ... und
wehren ſich gegen den, der’s ihnen rauben will. —

Sie alle ſind wenigſtens noch, auch nur als Ausnahmen von der Regel betrachtet, wuͤrdige,
nuͤtzliche Produkte. — Opfer fuͤr dich und mich Geſunden, Vernuͤnftigen — da, daß Gottes
Kraft einſt an ihnen offenbar wuͤrde
*) da, daß wir anbeten den, der uns — ohn’ un-
ſer Wollen oder Laufen — beſſer bildete, zu erkennen Jhn und die Kraft ſeiner allwuͤrkſamen
Gottheit.

Alſo — geſunder, gerader, verſtaͤndiger, edler Menſch, ſchaue ſie an deine ſchwaͤchern Mit-
geſchoͤpfe, aber verachte ſie nicht! Du biſt Menſch, und ſie ſind’s nicht minder, und in den Augen
hoͤherer Weſen biſt du, was dieſe in den deinigen ſind — Aller Augen erleuchtet der Herr .. Sie
athmen unſere Luft, und waͤrmen ſich am Stral unſerer Sonne.

O ihr Gegenſtaͤnde menſchlicher Verachtung und des ſtolzen unbruͤderlichen Spottes —
wie kann ich Eure gluͤcklichern Bruͤder mit Euch ungluͤcklichern verſoͤhnen? — wer ſie verachtet,
laßt michs, Leſer, noch einmal Euch zurufen, der ſchmaͤht ihren Schoͤpfer.

Und du — der dem Lahmen, der 40. Jahre nie gewandelt hatte, Leben und Schnellkraft
gab — dem Tauben Gehoͤr, dem Stummen Sprache, und allen Weiſen Weisheit! O du, der
alles neu machen und jedes nach Gerechtigkeit richten wird, wenn die Himmel wie eine Rolle ſich
zuſammen rollen, und die Erde mit allen ihren Produkten zerſchmelzen wird! O du — mit wel-

chen
*) Joh. IX. 3.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0280" n="190"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">XVI.</hi> Fragment.</hi></hi></fw><lb/>
unter dreyhunderten kaum Ein Kru&#x0364;ppel. Aber auch die&#x017F;er Kru&#x0364;ppel, die&#x017F;er Thor, die&#x017F;er Zwerg,<lb/>
die&#x017F;er Rie&#x017F;e &#x2014; &#x017F;ie alle noch Zeugen der mannichfaltigen Huld und Weisheit de&#x017F;&#x017F;en, der alles<lb/>
&#x017F;chafft zu &#x017F;eines Namens Prei&#x017F;e ... Sie alle leben &#x2014; und freuen &#x017F;ich des Lebens ... und<lb/>
wehren &#x017F;ich gegen den, der&#x2019;s ihnen rauben will. &#x2014;</p><lb/>
            <p>Sie alle &#x017F;ind wenig&#x017F;tens noch, auch nur als Ausnahmen von der Regel betrachtet, wu&#x0364;rdige,<lb/>
nu&#x0364;tzliche Produkte. &#x2014; Opfer fu&#x0364;r dich und mich Ge&#x017F;unden, Vernu&#x0364;nftigen &#x2014; da, <hi rendition="#fr">daß Gottes<lb/>
Kraft ein&#x017F;t an ihnen offenbar wu&#x0364;rde</hi> &#x2014; <note place="foot" n="*)">Joh. <hi rendition="#aq">IX.</hi> 3.</note> da, daß wir anbeten den, der uns &#x2014; ohn&#x2019; un-<lb/>
&#x017F;er Wollen oder Laufen &#x2014; be&#x017F;&#x017F;er bildete, zu erkennen Jhn und die Kraft &#x017F;einer allwu&#x0364;rk&#x017F;amen<lb/>
Gottheit.</p><lb/>
            <p>Al&#x017F;o &#x2014; ge&#x017F;under, gerader, ver&#x017F;ta&#x0364;ndiger, edler Men&#x017F;ch, &#x017F;chaue &#x017F;ie an deine &#x017F;chwa&#x0364;chern Mit-<lb/>
ge&#x017F;cho&#x0364;pfe, aber verachte &#x017F;ie nicht! Du bi&#x017F;t Men&#x017F;ch, und &#x017F;ie &#x017F;ind&#x2019;s nicht minder, und in den Augen<lb/>
ho&#x0364;herer We&#x017F;en bi&#x017F;t du, was die&#x017F;e in den deinigen &#x017F;ind &#x2014; Aller Augen erleuchtet der Herr .. Sie<lb/>
athmen un&#x017F;ere Luft, und wa&#x0364;rmen &#x017F;ich am Stral un&#x017F;erer Sonne.</p><lb/>
            <p>O ihr Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde men&#x017F;chlicher Verachtung und des &#x017F;tolzen unbru&#x0364;derlichen Spottes &#x2014;<lb/>
wie kann ich Eure glu&#x0364;cklichern Bru&#x0364;der mit Euch unglu&#x0364;cklichern ver&#x017F;o&#x0364;hnen? &#x2014; <hi rendition="#fr">wer &#x017F;ie verachtet,</hi><lb/>
laßt michs, Le&#x017F;er, noch einmal Euch zurufen, der <hi rendition="#fr">&#x017F;chma&#x0364;ht ihren Scho&#x0364;pfer.</hi></p><lb/>
            <p>Und du &#x2014; der dem Lahmen, der 40. Jahre nie gewandelt hatte, Leben und Schnellkraft<lb/>
gab &#x2014; dem Tauben Geho&#x0364;r, dem Stummen Sprache, und allen Wei&#x017F;en Weisheit! O du, der<lb/>
alles neu machen und jedes nach Gerechtigkeit richten wird, wenn die Himmel wie eine Rolle &#x017F;ich<lb/>
zu&#x017F;ammen rollen, und die Erde mit allen ihren Produkten zer&#x017F;chmelzen wird! O du &#x2014; mit wel-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">chen</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[190/0280] XVI. Fragment. unter dreyhunderten kaum Ein Kruͤppel. Aber auch dieſer Kruͤppel, dieſer Thor, dieſer Zwerg, dieſer Rieſe — ſie alle noch Zeugen der mannichfaltigen Huld und Weisheit deſſen, der alles ſchafft zu ſeines Namens Preiſe ... Sie alle leben — und freuen ſich des Lebens ... und wehren ſich gegen den, der’s ihnen rauben will. — Sie alle ſind wenigſtens noch, auch nur als Ausnahmen von der Regel betrachtet, wuͤrdige, nuͤtzliche Produkte. — Opfer fuͤr dich und mich Geſunden, Vernuͤnftigen — da, daß Gottes Kraft einſt an ihnen offenbar wuͤrde — *) da, daß wir anbeten den, der uns — ohn’ un- ſer Wollen oder Laufen — beſſer bildete, zu erkennen Jhn und die Kraft ſeiner allwuͤrkſamen Gottheit. Alſo — geſunder, gerader, verſtaͤndiger, edler Menſch, ſchaue ſie an deine ſchwaͤchern Mit- geſchoͤpfe, aber verachte ſie nicht! Du biſt Menſch, und ſie ſind’s nicht minder, und in den Augen hoͤherer Weſen biſt du, was dieſe in den deinigen ſind — Aller Augen erleuchtet der Herr .. Sie athmen unſere Luft, und waͤrmen ſich am Stral unſerer Sonne. O ihr Gegenſtaͤnde menſchlicher Verachtung und des ſtolzen unbruͤderlichen Spottes — wie kann ich Eure gluͤcklichern Bruͤder mit Euch ungluͤcklichern verſoͤhnen? — wer ſie verachtet, laßt michs, Leſer, noch einmal Euch zurufen, der ſchmaͤht ihren Schoͤpfer. Und du — der dem Lahmen, der 40. Jahre nie gewandelt hatte, Leben und Schnellkraft gab — dem Tauben Gehoͤr, dem Stummen Sprache, und allen Weiſen Weisheit! O du, der alles neu machen und jedes nach Gerechtigkeit richten wird, wenn die Himmel wie eine Rolle ſich zuſammen rollen, und die Erde mit allen ihren Produkten zerſchmelzen wird! O du — mit wel- chen *) Joh. IX. 3.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/280
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/280>, abgerufen am 22.11.2024.