Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.III. Fragment. Kein Mensch kann einen andern Menschen entbehrlich machen; kein Mensch durch einen Dieser Glaube an die Unentbehrlichkeit und Unersetzbarkeit aller Menschen außer uns -- Eine Frucht, voll von Samenkörnern zu herrlichen Cedern -- der Toleranz und Men- Der schlechteste, verzogenste, verdorbenste Mensch -- ist doch noch Mensch, und unent- Menschheit in allen Verzerrungen ist immer noch bewundernswürdige Siebenmal -- möcht' ich dir dieß in Einer Viertelstunde wiederholen! Du bist besser, schöner, edler, als so viele deiner Nebenmenschen? -- -- wohlan! freue Jhn! .... Denn was hast du, o Mensch, das du nicht empfangen hast; so Wer fühlt alle diese Gotteswahrheiten tiefer, inniger, als der -- -- ächte Physiogno- Freylich!
III. Fragment. Kein Menſch kann einen andern Menſchen entbehrlich machen; kein Menſch durch einen Dieſer Glaube an die Unentbehrlichkeit und Unerſetzbarkeit aller Menſchen außer uns — Eine Frucht, voll von Samenkoͤrnern zu herrlichen Cedern — der Toleranz und Men- Der ſchlechteſte, verzogenſte, verdorbenſte Menſch — iſt doch noch Menſch, und unent- Menſchheit in allen Verzerrungen iſt immer noch bewundernswuͤrdige Siebenmal — moͤcht’ ich dir dieß in Einer Viertelſtunde wiederholen! Du biſt beſſer, ſchoͤner, edler, als ſo viele deiner Nebenmenſchen? — — wohlan! freue Jhn! .... Denn was haſt du, o Menſch, das du nicht empfangen haſt; ſo Wer fuͤhlt alle dieſe Gotteswahrheiten tiefer, inniger, als der — — aͤchte Phyſiogno- Freylich!
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III. Fragment.
Kein Menſch kann einen andern Menſchen entbehrlich machen; kein Menſch durch einen
andern erſetzt werden. —
Dieſer Glaube an die Unentbehrlichkeit und Unerſetzbarkeit aller Menſchen außer uns —
an unſre eigne metaphyſiſche Unentbehrlichkeit und Unerſetzbarkeit — iſt wieder eine von den uner-
kannten, herrlichen Fruͤchten der Phyſiognomik. —
Eine Frucht, voll von Samenkoͤrnern zu herrlichen Cedern — der Toleranz und Men-
ſchenliebe — Moͤchten ſie, Nachkommenſchaft, dir aufwachſen! Folgende Jahrhunderte, moͤchtet
Jhr Euch unter ihren Schatten lagern!
Der ſchlechteſte, verzogenſte, verdorbenſte Menſch — iſt doch noch Menſch, und unent-
behrlich in Gottes Welt — und einer dunklern oder deutlichern Erkenntniß ſeiner Jndividualitaͤt
und unerſetzbaren Unentbehrlichkeit faͤhig. Die ſchlechteſte, lebende Mißgeburt ſo gar iſt doch noch
edler — als das beſte, ſchoͤnſte, vollkommenſte Thier — — O Menſch — ſieh auf das, was da
iſt — nicht auf das, was mangelt. —
Menſchheit in allen Verzerrungen iſt immer noch bewundernswuͤrdige
Menſchheit.
Siebenmal — moͤcht’ ich dir dieß in Einer Viertelſtunde wiederholen!
Du biſt beſſer, ſchoͤner, edler, als ſo viele deiner Nebenmenſchen? — — wohlan! freue
dich deß, und bete nicht dich, ſondern den an, der aus einem Thone ein Gefaͤß der Eh-
re, und ein Gefaͤß der Unehre ſchuf! — Jhn, der ohne deinen Rath, ohne deine Bitte und
ohne dein Verdienſt dich das werden ließ, was du biſt!
Jhn! .... Denn was haſt du, o Menſch, das du nicht empfangen haſt; ſo
du’s aber empfangen haſt, was ruͤhmeſt du dich, als ob du es nicht empfangen haͤt-
teſt? — darf auch das Auge zu der Hand ſagen: Jch bedarf deiner nicht? — — wer
den Armen verachtet, der ſchmaͤhet den Schoͤpfer deſſelben — Gott hat das ganze Ge-
ſchlecht der Menſchen aus Einem Blute gemacht. —
Wer fuͤhlt alle dieſe Gotteswahrheiten tiefer, inniger, als der — — aͤchte Phyſiogno-
miſt! .... der, ach nicht bloß Litterator, Leſer, Recenſirer, Schriftfabrikant, der ......
Menſch iſt. —
Freylich!
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