Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.Beschluß. Des Grimmes zähe Haut und bog die Augen-braun Dem weicheren Empfinder; anzog sie Dem Helden und dem Denker Und spannte sie dem Seher! Der Wolken sendet auf des Mörders; Und auf Johannes faltenlose Stirne Der Morgenröthe Goldstral! -- O du -- der sich in jeder Menschenseele, Jn jedem Menschenangesichte spiegelt, Wie in dem Tropfen des reinen Thaus, Jm trüben des Morasts, die Sonne! O dir! o könnt' ich dir die Menschen -- näher führen! O deine Lieblinge, du Liebender, dir näher! Dir deine Deinigsten auf diesem Ball; Gefühl von dir! von dir in jeder Seele wecken! Unsterbliches Gefühl! Erkünsteln nicht! erzwingen, erschleichen nicht; Heraus aus allen Seelen rufen, was in der Tiefe Noch schlummert -- durch Deutung stiller -- Verborgner Herrlichkeit des Menschenangesichts! Anbetung dir! o könnt' ich wecken sie Aus aller Herzen! aller Herzen ach! Verwandeln in Gott-Empfindung! O laß vom hingesunknen Angesicht, Vom Aug des Wurms, dem du Gefühl [Spaltenumbruch] Der Gotteswürde gabst, zu der hinauf Jhn deine Liebe führt -- laß dich die Thräne, Die Thräne nicht, laß dich erflehn Der Seele frohe Kinderzuversicht, Die mehr dir ist, als alle Wortgebete, Die mehr als heiße bange Thränen ist Um -- Seegen! Licht dem Leser! Kraft Und Weisheit, und Gefühl entquille Dem matten Stammeln! quill aus jedem Bild! Entquille Warnung! Stärkung! Wahrheit! Gefühl der Menschheit -- Freude, Leben, Liebe! Nicht Richterey! nicht Stoff zu Schulgezänken! Dann Vater noch -- vergieb die Fehler! Wie viel sind ihr! vergieb Des Schwachsinns Streben! Jch bitte nicht! Jch glaube! -- Bitte, glaube Noch inniger! Entdecke die Fehler mir! Am innigsten: gieb Weisheit mir Und Kraft und Demuth mir! Und Kindereinfalt, sie zu vergüten alle! Und du, o Christus, aus deinem Gottesantlitz Gieb Winke mir und Blicke göttlicher Beleh- rung, Ach, Blicke voll Huld und Kraft -- und leite Durch sie mich durch die steilen Felsenpfad' Hinauf zum hochbewölkten Ziele Der möglichsten Vollendung! Register. O o 2
Beſchluß. Des Grimmes zaͤhe Haut und bog die Augen-braun Dem weicheren Empfinder; anzog ſie Dem Helden und dem Denker Und ſpannte ſie dem Seher! Der Wolken ſendet auf des Moͤrders; Und auf Johannes faltenloſe Stirne Der Morgenroͤthe Goldſtral! — O du — der ſich in jeder Menſchenſeele, Jn jedem Menſchenangeſichte ſpiegelt, Wie in dem Tropfen des reinen Thaus, Jm truͤben des Moraſts, die Sonne! O dir! o koͤnnt’ ich dir die Menſchen — naͤher fuͤhren! O deine Lieblinge, du Liebender, dir naͤher! Dir deine Deinigſten auf dieſem Ball; Gefuͤhl von dir! von dir in jeder Seele wecken! Unſterbliches Gefuͤhl! Erkuͤnſteln nicht! erzwingen, erſchleichen nicht; Heraus aus allen Seelen rufen, was in der Tiefe Noch ſchlummert — durch Deutung ſtiller — Verborgner Herrlichkeit des Menſchenangeſichts! Anbetung dir! o koͤnnt’ ich wecken ſie Aus aller Herzen! aller Herzen ach! Verwandeln in Gott-Empfindung! O laß vom hingeſunknen Angeſicht, Vom Aug des Wurms, dem du Gefuͤhl [Spaltenumbruch] Der Gotteswuͤrde gabſt, zu der hinauf Jhn deine Liebe fuͤhrt — laß dich die Thraͤne, Die Thraͤne nicht, laß dich erflehn Der Seele frohe Kinderzuverſicht, Die mehr dir iſt, als alle Wortgebete, Die mehr als heiße bange Thraͤnen iſt Um — Seegen! Licht dem Leſer! Kraft Und Weisheit, und Gefuͤhl entquille Dem matten Stammeln! quill aus jedem Bild! Entquille Warnung! Staͤrkung! Wahrheit! Gefuͤhl der Menſchheit — Freude, Leben, Liebe! Nicht Richterey! nicht Stoff zu Schulgezaͤnken! Dann Vater noch — vergieb die Fehler! Wie viel ſind ihr! vergieb Des Schwachſinns Streben! Jch bitte nicht! Jch glaube! — Bitte, glaube Noch inniger! Entdecke die Fehler mir! Am innigſten: gieb Weisheit mir Und Kraft und Demuth mir! Und Kindereinfalt, ſie zu verguͤten alle! Und du, o Chriſtus, aus deinem Gottesantlitz Gieb Winke mir und Blicke goͤttlicher Beleh- rung, Ach, Blicke voll Huld und Kraft — und leite Durch ſie mich durch die ſteilen Felſenpfad’ Hinauf zum hochbewoͤlkten Ziele Der moͤglichſten Vollendung! Regiſter. O o 2
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Beſchluß.
Des Grimmes zaͤhe Haut und bog die Augen-
braun
Dem weicheren Empfinder; anzog ſie
Dem Helden und dem Denker
Und ſpannte ſie dem Seher!
Der Wolken ſendet auf des Moͤrders;
Und auf Johannes faltenloſe Stirne
Der Morgenroͤthe Goldſtral! —
O du — der ſich in jeder Menſchenſeele,
Jn jedem Menſchenangeſichte ſpiegelt,
Wie in dem Tropfen des reinen Thaus,
Jm truͤben des Moraſts, die Sonne!
O dir! o koͤnnt’ ich dir die Menſchen — naͤher
fuͤhren!
O deine Lieblinge, du Liebender, dir naͤher!
Dir deine Deinigſten auf dieſem Ball;
Gefuͤhl von dir! von dir in jeder Seele wecken!
Unſterbliches Gefuͤhl!
Erkuͤnſteln nicht! erzwingen, erſchleichen nicht;
Heraus aus allen Seelen rufen, was in der Tiefe
Noch ſchlummert — durch Deutung ſtiller —
Verborgner Herrlichkeit des Menſchenangeſichts!
Anbetung dir! o koͤnnt’ ich wecken ſie
Aus aller Herzen! aller Herzen ach!
Verwandeln in Gott-Empfindung!
O laß vom hingeſunknen Angeſicht,
Vom Aug des Wurms, dem du Gefuͤhl
Der Gotteswuͤrde gabſt, zu der hinauf
Jhn deine Liebe fuͤhrt — laß dich die Thraͤne,
Die Thraͤne nicht, laß dich erflehn
Der Seele frohe Kinderzuverſicht,
Die mehr dir iſt, als alle Wortgebete,
Die mehr als heiße bange Thraͤnen iſt
Um — Seegen! Licht dem Leſer! Kraft
Und Weisheit, und Gefuͤhl entquille
Dem matten Stammeln! quill aus jedem Bild!
Entquille Warnung! Staͤrkung! Wahrheit!
Gefuͤhl der Menſchheit — Freude, Leben, Liebe!
Nicht Richterey! nicht Stoff zu Schulgezaͤnken!
Dann Vater noch — vergieb die Fehler!
Wie viel ſind ihr! vergieb
Des Schwachſinns Streben!
Jch bitte nicht! Jch glaube! — Bitte, glaube
Noch inniger! Entdecke die Fehler mir!
Am innigſten: gieb Weisheit mir
Und Kraft und Demuth mir!
Und Kindereinfalt, ſie zu verguͤten alle!
Und du, o Chriſtus, aus deinem Gottesantlitz
Gieb Winke mir und Blicke goͤttlicher Beleh-
rung,
Ach, Blicke voll Huld und Kraft — und leite
Durch ſie mich durch die ſteilen Felſenpfad’
Hinauf zum hochbewoͤlkten Ziele
Der moͤglichſten Vollendung!
H. den 8. Febr. 1776.
Regiſter.
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/519>, abgerufen am 16.02.2025. |