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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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gegen die Physiognomik überhaupt.
seichte Kopf pflegt immer das Positife zu übersehen, und mit dem unabtreiblichsten Eigensinn
an dem Negatifen zu kleben.

Siehe zuerst, was du bist, und was du hast, und kannst, und weißt, ehe du un-
tersuchest, was du nicht bist, nicht weißt, nicht hast, und nicht kannst.
Das ist die Re-
gel, die jeder, der weise, tugendhaft, glücklich werden will, sich nicht nur vorschreiben, die man,
wenn ich so sagen darf, in seine eigene Seele verwandeln sollte. Der wahre Weise sieht im-
mer zuerst auf das was da ist; der Afterweise, der Pedant, immer zuerst auf
das was mangelt.
Der wahre Philosoph sieht auf die positifen Beweise für eine Sache, zu-
erst,
sag' ich, (ich ersuche sehr, diese meine Behauptung sich nicht unrichtig vorzustellen) zuerst,
sag' ich -- und der schlechte Kopf zuerst auf negative Gegenbeweise. Das war z. E. von
jeher die Methode der Ungläubigen -- der Bestreiter des Christenthums. Wenn das Christen-
thum falsch wäre -- wäre doch diese Methode, seine Falschheit zu zeigen, unbillig und unlogisch.
Als unbillig und unlogisch sollte diese Methode dargethan und verworfen werden, ehe man sich
mit ihnen in besondere Felder von Beantwortung einließe.

Es würde sich also, um wieder auf die Physiognomik zurückzukommen, bloß fragen: "Giebt
"es so entscheidend positife Gründe für die Physiognomik, daß wir auf die scheinbarsten Ein-
"wendungen nicht achten dürfen?" --

Jch bin davon so sehr, wie von meinem eigenen Daseyn überzeugt; und am Ende dieses
Werkes soll's jeder unpartheyischer Leser seyn, der nur so viel Einsicht und Redlichkeit besitzt,
uns nicht abzuläugnen: "daß uns die Augen zum Sehen gegeben sind, obgleich es tausend Augen
"in der Welt giebt, die nicht sehen." --

Es ist wahrscheinlich, daß es Gelehrte giebt, die mich hierüber chikaniren könnten.
Man könnte mir z. E. aus Reaumür die Papillons femelles und die großen Ameisenfliegen an-
führen, -- um mir zu beweisen, wie sehr man sich in der Angabe der Endursachen physischer
Dinge irren könne -- Man könnte sagen: "Flügel scheinen offenbar zum Fliegen gegeben zu
"seyn, und dennoch fliegen diese Jnsekten niemals, also -- sind die Flügel nicht schlechterdings
"zum Fliegen -- und so, weil einige beaugte Wesen nicht sehen, die Augen nicht schlechter-

dings
F 2

gegen die Phyſiognomik uͤberhaupt.
ſeichte Kopf pflegt immer das Poſitife zu uͤberſehen, und mit dem unabtreiblichſten Eigenſinn
an dem Negatifen zu kleben.

Siehe zuerſt, was du biſt, und was du haſt, und kannſt, und weißt, ehe du un-
terſucheſt, was du nicht biſt, nicht weißt, nicht haſt, und nicht kannſt.
Das iſt die Re-
gel, die jeder, der weiſe, tugendhaft, gluͤcklich werden will, ſich nicht nur vorſchreiben, die man,
wenn ich ſo ſagen darf, in ſeine eigene Seele verwandeln ſollte. Der wahre Weiſe ſieht im-
mer zuerſt auf das was da iſt; der Afterweiſe, der Pedant, immer zuerſt auf
das was mangelt.
Der wahre Philoſoph ſieht auf die poſitifen Beweiſe fuͤr eine Sache, zu-
erſt,
ſag’ ich, (ich erſuche ſehr, dieſe meine Behauptung ſich nicht unrichtig vorzuſtellen) zuerſt,
ſag’ ich — und der ſchlechte Kopf zuerſt auf negative Gegenbeweiſe. Das war z. E. von
jeher die Methode der Unglaͤubigen — der Beſtreiter des Chriſtenthums. Wenn das Chriſten-
thum falſch waͤre — waͤre doch dieſe Methode, ſeine Falſchheit zu zeigen, unbillig und unlogiſch.
Als unbillig und unlogiſch ſollte dieſe Methode dargethan und verworfen werden, ehe man ſich
mit ihnen in beſondere Felder von Beantwortung einließe.

Es wuͤrde ſich alſo, um wieder auf die Phyſiognomik zuruͤckzukommen, bloß fragen: „Giebt
„es ſo entſcheidend poſitife Gruͤnde fuͤr die Phyſiognomik, daß wir auf die ſcheinbarſten Ein-
„wendungen nicht achten duͤrfen?“ —

Jch bin davon ſo ſehr, wie von meinem eigenen Daſeyn uͤberzeugt; und am Ende dieſes
Werkes ſoll’s jeder unpartheyiſcher Leſer ſeyn, der nur ſo viel Einſicht und Redlichkeit beſitzt,
uns nicht abzulaͤugnen: „daß uns die Augen zum Sehen gegeben ſind, obgleich es tauſend Augen
„in der Welt giebt, die nicht ſehen.“ —

Es iſt wahrſcheinlich, daß es Gelehrte giebt, die mich hieruͤber chikaniren koͤnnten.
Man koͤnnte mir z. E. aus Reaumuͤr die Papillons femelles und die großen Ameiſenfliegen an-
fuͤhren, — um mir zu beweiſen, wie ſehr man ſich in der Angabe der Endurſachen phyſiſcher
Dinge irren koͤnne — Man koͤnnte ſagen: „Fluͤgel ſcheinen offenbar zum Fliegen gegeben zu
„ſeyn, und dennoch fliegen dieſe Jnſekten niemals, alſo — ſind die Fluͤgel nicht ſchlechterdings
„zum Fliegen — und ſo, weil einige beaugte Weſen nicht ſehen, die Augen nicht ſchlechter-

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[43/0065] gegen die Phyſiognomik uͤberhaupt. ſeichte Kopf pflegt immer das Poſitife zu uͤberſehen, und mit dem unabtreiblichſten Eigenſinn an dem Negatifen zu kleben. Siehe zuerſt, was du biſt, und was du haſt, und kannſt, und weißt, ehe du un- terſucheſt, was du nicht biſt, nicht weißt, nicht haſt, und nicht kannſt. Das iſt die Re- gel, die jeder, der weiſe, tugendhaft, gluͤcklich werden will, ſich nicht nur vorſchreiben, die man, wenn ich ſo ſagen darf, in ſeine eigene Seele verwandeln ſollte. Der wahre Weiſe ſieht im- mer zuerſt auf das was da iſt; der Afterweiſe, der Pedant, immer zuerſt auf das was mangelt. Der wahre Philoſoph ſieht auf die poſitifen Beweiſe fuͤr eine Sache, zu- erſt, ſag’ ich, (ich erſuche ſehr, dieſe meine Behauptung ſich nicht unrichtig vorzuſtellen) zuerſt, ſag’ ich — und der ſchlechte Kopf zuerſt auf negative Gegenbeweiſe. Das war z. E. von jeher die Methode der Unglaͤubigen — der Beſtreiter des Chriſtenthums. Wenn das Chriſten- thum falſch waͤre — waͤre doch dieſe Methode, ſeine Falſchheit zu zeigen, unbillig und unlogiſch. Als unbillig und unlogiſch ſollte dieſe Methode dargethan und verworfen werden, ehe man ſich mit ihnen in beſondere Felder von Beantwortung einließe. Es wuͤrde ſich alſo, um wieder auf die Phyſiognomik zuruͤckzukommen, bloß fragen: „Giebt „es ſo entſcheidend poſitife Gruͤnde fuͤr die Phyſiognomik, daß wir auf die ſcheinbarſten Ein- „wendungen nicht achten duͤrfen?“ — Jch bin davon ſo ſehr, wie von meinem eigenen Daſeyn uͤberzeugt; und am Ende dieſes Werkes ſoll’s jeder unpartheyiſcher Leſer ſeyn, der nur ſo viel Einſicht und Redlichkeit beſitzt, uns nicht abzulaͤugnen: „daß uns die Augen zum Sehen gegeben ſind, obgleich es tauſend Augen „in der Welt giebt, die nicht ſehen.“ — Es iſt wahrſcheinlich, daß es Gelehrte giebt, die mich hieruͤber chikaniren koͤnnten. Man koͤnnte mir z. E. aus Reaumuͤr die Papillons femelles und die großen Ameiſenfliegen an- fuͤhren, — um mir zu beweiſen, wie ſehr man ſich in der Angabe der Endurſachen phyſiſcher Dinge irren koͤnne — Man koͤnnte ſagen: „Fluͤgel ſcheinen offenbar zum Fliegen gegeben zu „ſeyn, und dennoch fliegen dieſe Jnſekten niemals, alſo — ſind die Fluͤgel nicht ſchlechterdings „zum Fliegen — und ſo, weil einige beaugte Weſen nicht ſehen, die Augen nicht ſchlechter- dings F 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/65>, abgerufen am 24.11.2024.