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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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gegen die Physiognomik überhaupt.
wenn ich nicht mehr zweifeln kann -- daß Augen und Ohren ihre genaue angebliche Bestimmung
haben; so mach' ich, dünkt mich, keinen unrichtigen Schluß, wenn ich denke, daß auch die übrigen
Sinnen und Glieder an demselben menschlichen Körper, der ein so zusammengegoßnes Ganzes und
Eins ist -- ihre besondere Bestimmung und Verrichtung haben, obgleich ich vielleicht noch nicht dazu
gekommen seyn könnte, diese Bestimmung so mancher einzelnen Sinne, Glieder, und Eingeweide
zu kennen.

So, Mitforscher der Wahrheit, meyn' ich, verhält es sich mit der Bedeutung der Ge-
sichtszüge des Menschen und der Zeichnung seines Körpers und aller seiner Glieder.

Wenn erwiesen werden kann, daß zwey, drey Züge gewiß von bestimmter Bedeutung
sind, so bestimmter Bedeutung, als das Auge Ausdruck des Gesichts ist -- schließ ich nicht genau
nach der eben angeführten, allgemein für richtig erkannten Schlußart: "daß auch diejenigen Züge
"bedeutend seyn, deren Bedeutung ich allenfalls noch nicht weiß?"

Nun glaub ich's jedem Menschen von dem gemeinsten Menschenverstand erweisen zu kön-
nen: "daß in jedem Menschen ohne Ausnahme wenigstens Etwas, wenigstens in gewissen Um-
"ständen, sey's nun dieß oder jenes, und zwar mehr als Eins -- von bestimmter Bedeutung sey,
"so gut ich's dem Einfältigsten begreiflich machen kann, daß wenigstens einige Glieder am menschli-
"chen Körper ihre angebliche gewisse Bestimmung haben." --

Zwanzig, dreyßig aus dem Haufen herausgegriffene Menschen werden, wenn sie lachen
und wenn sie weinen, mithin in dem Ausdrucke, den Aeusserungen, ihrer Freude und ihrer Trau-
rigkeit etwas mit einander gemein haben -- Gewisse Züge an ihnen werden sich ähnlicher werden,
als diese Züge sich sonst sind, wenn sie nicht in einer ähnlichen Gemüthslage sich befinden.

Nun dünkt mich, wenn man zugesteht, daß große Freude und große Traurigkeit ihren all-
gemein erkennbaren Ausdruck haben; daß der Ausdruck von beyden so verschieden sey, als Freud
und Traurigkeit verschieden sind; sollte man denn nicht auch gestehen müssen, daß der Zustand der
Ruhe -- das Mittel zwischen Freude und Traurigkeit auch seinen besondern Ausdruck haben
müsse -- oder, mit andern Worten: "daß die Muskeln um Augen und Lippen herum sichtbar in
"einer andern Lage sich befinden müssen?" --

Giebt
F 3

gegen die Phyſiognomik uͤberhaupt.
wenn ich nicht mehr zweifeln kann — daß Augen und Ohren ihre genaue angebliche Beſtimmung
haben; ſo mach’ ich, duͤnkt mich, keinen unrichtigen Schluß, wenn ich denke, daß auch die uͤbrigen
Sinnen und Glieder an demſelben menſchlichen Koͤrper, der ein ſo zuſammengegoßnes Ganzes und
Eins iſt — ihre beſondere Beſtimmung und Verrichtung haben, obgleich ich vielleicht noch nicht dazu
gekommen ſeyn koͤnnte, dieſe Beſtimmung ſo mancher einzelnen Sinne, Glieder, und Eingeweide
zu kennen.

So, Mitforſcher der Wahrheit, meyn’ ich, verhaͤlt es ſich mit der Bedeutung der Ge-
ſichtszuͤge des Menſchen und der Zeichnung ſeines Koͤrpers und aller ſeiner Glieder.

Wenn erwieſen werden kann, daß zwey, drey Zuͤge gewiß von beſtimmter Bedeutung
ſind, ſo beſtimmter Bedeutung, als das Auge Ausdruck des Geſichts iſt — ſchließ ich nicht genau
nach der eben angefuͤhrten, allgemein fuͤr richtig erkannten Schlußart: „daß auch diejenigen Zuͤge
„bedeutend ſeyn, deren Bedeutung ich allenfalls noch nicht weiß?

Nun glaub ich’s jedem Menſchen von dem gemeinſten Menſchenverſtand erweiſen zu koͤn-
nen: „daß in jedem Menſchen ohne Ausnahme wenigſtens Etwas, wenigſtens in gewiſſen Um-
„ſtaͤnden, ſey’s nun dieß oder jenes, und zwar mehr als Eins — von beſtimmter Bedeutung ſey,
„ſo gut ich’s dem Einfaͤltigſten begreiflich machen kann, daß wenigſtens einige Glieder am menſchli-
„chen Koͤrper ihre angebliche gewiſſe Beſtimmung haben.“ —

Zwanzig, dreyßig aus dem Haufen herausgegriffene Menſchen werden, wenn ſie lachen
und wenn ſie weinen, mithin in dem Ausdrucke, den Aeuſſerungen, ihrer Freude und ihrer Trau-
rigkeit etwas mit einander gemein haben — Gewiſſe Zuͤge an ihnen werden ſich aͤhnlicher werden,
als dieſe Zuͤge ſich ſonſt ſind, wenn ſie nicht in einer aͤhnlichen Gemuͤthslage ſich befinden.

Nun duͤnkt mich, wenn man zugeſteht, daß große Freude und große Traurigkeit ihren all-
gemein erkennbaren Ausdruck haben; daß der Ausdruck von beyden ſo verſchieden ſey, als Freud
und Traurigkeit verſchieden ſind; ſollte man denn nicht auch geſtehen muͤſſen, daß der Zuſtand der
Ruhe — das Mittel zwiſchen Freude und Traurigkeit auch ſeinen beſondern Ausdruck haben
muͤſſe — oder, mit andern Worten: „daß die Muskeln um Augen und Lippen herum ſichtbar in
„einer andern Lage ſich befinden muͤſſen?“ —

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F 3
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[45/0067] gegen die Phyſiognomik uͤberhaupt. wenn ich nicht mehr zweifeln kann — daß Augen und Ohren ihre genaue angebliche Beſtimmung haben; ſo mach’ ich, duͤnkt mich, keinen unrichtigen Schluß, wenn ich denke, daß auch die uͤbrigen Sinnen und Glieder an demſelben menſchlichen Koͤrper, der ein ſo zuſammengegoßnes Ganzes und Eins iſt — ihre beſondere Beſtimmung und Verrichtung haben, obgleich ich vielleicht noch nicht dazu gekommen ſeyn koͤnnte, dieſe Beſtimmung ſo mancher einzelnen Sinne, Glieder, und Eingeweide zu kennen. So, Mitforſcher der Wahrheit, meyn’ ich, verhaͤlt es ſich mit der Bedeutung der Ge- ſichtszuͤge des Menſchen und der Zeichnung ſeines Koͤrpers und aller ſeiner Glieder. Wenn erwieſen werden kann, daß zwey, drey Zuͤge gewiß von beſtimmter Bedeutung ſind, ſo beſtimmter Bedeutung, als das Auge Ausdruck des Geſichts iſt — ſchließ ich nicht genau nach der eben angefuͤhrten, allgemein fuͤr richtig erkannten Schlußart: „daß auch diejenigen Zuͤge „bedeutend ſeyn, deren Bedeutung ich allenfalls noch nicht weiß?“ Nun glaub ich’s jedem Menſchen von dem gemeinſten Menſchenverſtand erweiſen zu koͤn- nen: „daß in jedem Menſchen ohne Ausnahme wenigſtens Etwas, wenigſtens in gewiſſen Um- „ſtaͤnden, ſey’s nun dieß oder jenes, und zwar mehr als Eins — von beſtimmter Bedeutung ſey, „ſo gut ich’s dem Einfaͤltigſten begreiflich machen kann, daß wenigſtens einige Glieder am menſchli- „chen Koͤrper ihre angebliche gewiſſe Beſtimmung haben.“ — Zwanzig, dreyßig aus dem Haufen herausgegriffene Menſchen werden, wenn ſie lachen und wenn ſie weinen, mithin in dem Ausdrucke, den Aeuſſerungen, ihrer Freude und ihrer Trau- rigkeit etwas mit einander gemein haben — Gewiſſe Zuͤge an ihnen werden ſich aͤhnlicher werden, als dieſe Zuͤge ſich ſonſt ſind, wenn ſie nicht in einer aͤhnlichen Gemuͤthslage ſich befinden. Nun duͤnkt mich, wenn man zugeſteht, daß große Freude und große Traurigkeit ihren all- gemein erkennbaren Ausdruck haben; daß der Ausdruck von beyden ſo verſchieden ſey, als Freud und Traurigkeit verſchieden ſind; ſollte man denn nicht auch geſtehen muͤſſen, daß der Zuſtand der Ruhe — das Mittel zwiſchen Freude und Traurigkeit auch ſeinen beſondern Ausdruck haben muͤſſe — oder, mit andern Worten: „daß die Muskeln um Augen und Lippen herum ſichtbar in „einer andern Lage ſich befinden muͤſſen?“ — Giebt F 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/67>, abgerufen am 24.11.2024.