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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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III. Abschnitt. I. Fragment. Gedanken eines Unbekannten etc.
"Es kann auch eine Eigenschaft nur halb; nicht in ihrer vollen Kraft da seyn -- dann ist
"auch die Form nur halb, daher weniger deutlich ausgedrückt -- mithin schwerer zu entziefern."

"Der Mensch kann z. E. vier ganze und zwey halbe Eigenschaften haben, so hat der Leib,
"oder das Sichtbare, worauf sich die Eigenschaften des unsichtbaren Geistes ausdrücken, auch nur
"die vier ganzen und zwey halben Formen, die diese Eigenschaften ausdrücken -- oder fassen. Wie
"viel schwerer daher die Entzieferung am Menschen -- und wie selten hat der Mensch ganze Ei-
"genschaften? wie viel öfter nur halbe?"

"Könnt' es nicht seyn, daß die Seelen bloß durch Verbindung mit dem Körper sich von
"einander unterschieden" -- (nachdem man sich was unter Seele denkt .. Ja und nein!) "Daß
"die Seele nur Fähigkeit bestimmt durch die Form und Organisation des Leibes wäre?" --

(Wasser, das die Form des Gefäßes annimmt) "Daher jede Sache auf jeden Menschen einen ver-
"schiedenen Eindruck macht; daher einer mehr Lasten tragen, mehr Unglück aushalten kann, als
"ein anderer."

"Könnte der Leib nicht als ein Corpus von Gefächern, Höhlen, Löchern angesehen wer-
"den, worein Seelenmasse gegossen wird, wodurch Bewegung und Empfindung anfängt --
"daß also die Form des Leibes der Seele Fähigkeiten bestimmte?" --

So weit der unbekannte Freund -- Es ist eine gefährliche Sache um die Bildersprache --
wenn man von der Seele spricht -- und doch, wie kann man anders davon sprechen? .. Jch ent-
scheide nie was hierüber -- Fest halt' ich nur an Sinn und Erfahrung -- Nicht an Namen und
Bild! Was ist, ist, nenne man's, wie man will. Sey's nun, daß alles würke von außen auf
innen, oder von innen auf außen -- was weiß ich? Soll ich wissen? Genug -- Erfahrung ist's
beym Thier und Menschen, Kraft und Form sind in harmonischem unveränderlichem Verhält-
nisse. Ob nun die Form von der Kraft, oder die Kraft von der Form bestimmt werde -- das
gehört wenigstens nicht für den physiognomischen Beobachter.



Zweytes
III. Abſchnitt. I. Fragment. Gedanken eines Unbekannten ꝛc.
„Es kann auch eine Eigenſchaft nur halb; nicht in ihrer vollen Kraft da ſeyn — dann iſt
„auch die Form nur halb, daher weniger deutlich ausgedruͤckt — mithin ſchwerer zu entziefern.“

„Der Menſch kann z. E. vier ganze und zwey halbe Eigenſchaften haben, ſo hat der Leib,
„oder das Sichtbare, worauf ſich die Eigenſchaften des unſichtbaren Geiſtes ausdruͤcken, auch nur
„die vier ganzen und zwey halben Formen, die dieſe Eigenſchaften ausdruͤcken — oder faſſen. Wie
„viel ſchwerer daher die Entzieferung am Menſchen — und wie ſelten hat der Menſch ganze Ei-
„genſchaften? wie viel oͤfter nur halbe?“

„Koͤnnt’ es nicht ſeyn, daß die Seelen bloß durch Verbindung mit dem Koͤrper ſich von
„einander unterſchieden“ — (nachdem man ſich was unter Seele denkt .. Ja und nein!) „Daß
„die Seele nur Faͤhigkeit beſtimmt durch die Form und Organiſation des Leibes waͤre?“ —

(Waſſer, das die Form des Gefaͤßes annimmt) „Daher jede Sache auf jeden Menſchen einen ver-
„ſchiedenen Eindruck macht; daher einer mehr Laſten tragen, mehr Ungluͤck aushalten kann, als
„ein anderer.“

„Koͤnnte der Leib nicht als ein Corpus von Gefaͤchern, Hoͤhlen, Loͤchern angeſehen wer-
„den, worein Seelenmaſſe gegoſſen wird, wodurch Bewegung und Empfindung anfaͤngt —
„daß alſo die Form des Leibes der Seele Faͤhigkeiten beſtimmte?“ —

So weit der unbekannte Freund — Es iſt eine gefaͤhrliche Sache um die Bilderſprache —
wenn man von der Seele ſpricht — und doch, wie kann man anders davon ſprechen? .. Jch ent-
ſcheide nie was hieruͤber — Feſt halt’ ich nur an Sinn und Erfahrung — Nicht an Namen und
Bild! Was iſt, iſt, nenne man’s, wie man will. Sey’s nun, daß alles wuͤrke von außen auf
innen, oder von innen auf außen — was weiß ich? Soll ich wiſſen? Genug — Erfahrung iſt’s
beym Thier und Menſchen, Kraft und Form ſind in harmoniſchem unveraͤnderlichem Verhaͤlt-
niſſe. Ob nun die Form von der Kraft, oder die Kraft von der Form beſtimmt werde — das
gehoͤrt wenigſtens nicht fuͤr den phyſiognomiſchen Beobachter.



Zweytes
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[88/0138] III. Abſchnitt. I. Fragment. Gedanken eines Unbekannten ꝛc. „Es kann auch eine Eigenſchaft nur halb; nicht in ihrer vollen Kraft da ſeyn — dann iſt „auch die Form nur halb, daher weniger deutlich ausgedruͤckt — mithin ſchwerer zu entziefern.“ „Der Menſch kann z. E. vier ganze und zwey halbe Eigenſchaften haben, ſo hat der Leib, „oder das Sichtbare, worauf ſich die Eigenſchaften des unſichtbaren Geiſtes ausdruͤcken, auch nur „die vier ganzen und zwey halben Formen, die dieſe Eigenſchaften ausdruͤcken — oder faſſen. Wie „viel ſchwerer daher die Entzieferung am Menſchen — und wie ſelten hat der Menſch ganze Ei- „genſchaften? wie viel oͤfter nur halbe?“ „Koͤnnt’ es nicht ſeyn, daß die Seelen bloß durch Verbindung mit dem Koͤrper ſich von „einander unterſchieden“ — (nachdem man ſich was unter Seele denkt .. Ja und nein!) „Daß „die Seele nur Faͤhigkeit beſtimmt durch die Form und Organiſation des Leibes waͤre?“ — (Waſſer, das die Form des Gefaͤßes annimmt) „Daher jede Sache auf jeden Menſchen einen ver- „ſchiedenen Eindruck macht; daher einer mehr Laſten tragen, mehr Ungluͤck aushalten kann, als „ein anderer.“ „Koͤnnte der Leib nicht als ein Corpus von Gefaͤchern, Hoͤhlen, Loͤchern angeſehen wer- „den, worein Seelenmaſſe gegoſſen wird, wodurch Bewegung und Empfindung anfaͤngt — „daß alſo die Form des Leibes der Seele Faͤhigkeiten beſtimmte?“ — So weit der unbekannte Freund — Es iſt eine gefaͤhrliche Sache um die Bilderſprache — wenn man von der Seele ſpricht — und doch, wie kann man anders davon ſprechen? .. Jch ent- ſcheide nie was hieruͤber — Feſt halt’ ich nur an Sinn und Erfahrung — Nicht an Namen und Bild! Was iſt, iſt, nenne man’s, wie man will. Sey’s nun, daß alles wuͤrke von außen auf innen, oder von innen auf außen — was weiß ich? Soll ich wiſſen? Genug — Erfahrung iſt’s beym Thier und Menſchen, Kraft und Form ſind in harmoniſchem unveraͤnderlichem Verhaͤlt- niſſe. Ob nun die Form von der Kraft, oder die Kraft von der Form beſtimmt werde — das gehoͤrt wenigſtens nicht fuͤr den phyſiognomiſchen Beobachter. Zweytes

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/138>, abgerufen am 21.11.2024.