Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.Erklärung eines Gelehrten über die Physiognomik. "Jch eile manchen Fremden freundlich entgegen; einem andern weich' ich mit kalter Höf- (Es ist nicht zu läugnen, daß dieß nicht sehr oft der Fall ist, und viel mehr, als man ge- "Also (fährt unser gelehrte Verfasser fort) ist es nicht bloß Gefühl, sondern ich habe Grün- ihren M 2
Erklaͤrung eines Gelehrten uͤber die Phyſiognomik. „Jch eile manchen Fremden freundlich entgegen; einem andern weich’ ich mit kalter Hoͤf- (Es iſt nicht zu laͤugnen, daß dieß nicht ſehr oft der Fall iſt, und viel mehr, als man ge- „Alſo (faͤhrt unſer gelehrte Verfaſſer fort) iſt es nicht bloß Gefuͤhl, ſondern ich habe Gruͤn- ihren M 2
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Erklaͤrung eines Gelehrten uͤber die Phyſiognomik.
„Jch eile manchen Fremden freundlich entgegen; einem andern weich’ ich mit kalter Hoͤf-
„lichkeit aus, auch wenn kein Ausdruck einer Leidenſchaft mich anzieht, oder abſchreckt; — wenn
„ich genauer zuſehe, ſo finde ich immer, daß mich irgend ein Zug an einen wuͤrdigen oder Ver-
„dienſtloſen Bekannten erinnert, und ſelber das Kind, duͤnkt mich, handelt nach einerley Geſetze,
„wenn es Fremde flieht, oder ihnen liebkoſet, nur daß es mit weniger Zeichen zufrieden, ſich bey der
„Farbe des Kleides, dem Ton der Stimme, ja oft einer unmerklichen Bewegung beruhigt, die es
„an Aeltern, Amme oder Bekannten erinnert.“ —
(Es iſt nicht zu laͤugnen, daß dieß nicht ſehr oft der Fall iſt, und viel mehr, als man ge-
meiniglich denkt. Jndeſſen getrau ich mich doch zu behaupten, und zu beweiſen, daß es in der Na-
tur und Kunſt eine Menge Zuͤge, beſonders von aͤußerſten Enden leidenſchaftlicher ſowohl, als lei-
denſchaftloſer Zuſtaͤnde giebt, die an ſich ſelbſt und ohne alle Vergleichung mit gemachten Erfah-
rungen, auch dem ungeuͤbteſten Beobachter — zuverlaͤßig verſtaͤndlich ſind — Jch glaube, es iſt
ſchlechterdings in der Natur des Menſchen, in der Organiſation unſerer Augen und Ohren gegruͤn-
det, daß uns gewiſſe Phyſiognomien, ſo wie gewiſſe Toͤne, anziehen, andere zuruͤckſtoßen. Man
laſſe ein Kind, das nur wenige Menſchen zu ſehen Gelegenheit gehabt, den offenen Rachen eines
Loͤwen oder Tiegers — und das Laͤcheln eines gutmuͤthigen Menſchen ſehen — ohnfehlbar wird
ſeine Natur vor dem einen wegbeben — und dem andern laͤchelnd begegnen. Nicht aus raͤſonni-
render Vergleichung, ſondern aus urſpruͤnglichem Naturgefuͤhl — So wie’s aus eben dieſer Ur-
ſache eine liebliche Melodie mit Vergnuͤgen behorcht, und vor einem gewaltſamen Knall ſchauernd
in einander faͤhrt. So wenig da Ueberlegung oder Vergleichung ſtatt hat, ſo wenig in denen Faͤl-
len, wo aͤußerſt ſanfte — oder aͤußerſt wilde Phyſiognomien ſich ihm darſtellen.) —
„Alſo (faͤhrt unſer gelehrte Verfaſſer fort) iſt es nicht bloß Gefuͤhl, ſondern ich habe Gruͤn-
„de, dem Manne, der Tuͤrennen aͤhnlich ſieht, Sagazitaͤt, kalten Entſchluß, warme Ausfuͤh-
„rung zuzutrauen; wenn ich drey Maͤnner antreffe, deren einer Tuͤrennens Augen mit ſeiner
„Klugheit, der andere ſeine Naſe und ſeinen hohen Muth, der dritte ſeinen Mund und ſeine
„Thaͤtigkeit beſitzt; ſo iſt auch der Ort deutlich geworden, wo ſich jede Eigenſchaft aͤußert, und ich
„bin, ſo oft ich den Zug wieder wahrnehme, zu einem aͤhnlichen Urtheile berechtigt. Haͤtten wir
„dann nun Jahrtauſende lang Menſchengeſtalten unterſucht, charakteriſtiſche Zuͤge geordnet, nach
ihren
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