Vermischte Beobachtungen eines bekannten Dichters.
"mehr sie sich einem halben Zirkel nähern, der sich gegen den Mund zuschleußt, desto mehr scheinen "sie mir Eigenliebe anzudeuten, und werden unangenehm. Wenn sie aber wellenförmig und "schlangenartig laufen, sind sie höchst angenehm." --
6.
"Die Eröffnung des Mundes kann nie genug studiert werden. Jn ihr, deucht mich, steckt "die höchste Charakteristik des ganzen Menschen. Alles Naive, Zärtliche, Männliche der ganzen "Seele drückt sich da aus. Von diesem verschiedenen Ausdrucke ließen sich Folianten schreiben, "und ist das etwas, das dem unmittelbaren Gefühle des, der einen Menschen studiert, überlassen "werden muß." (Und dennoch von einem künftigen physiognomischen Zeichner gewiß nahe an be- stimmt werden wird.) "Die Muskeln um den Mund herum sind, deucht mich, dem Sitze der "Seele am nächsten, da kann sich der Mensch am wenigsten verstellen. Daher das häßlichste Ge- "sicht angenehm wird, wenn es noch gute Züge am Munde übrig behalten hat, und einem wohl or- "ganisirten Menschen nichts in der Natur so widrige Empfindungen erregen kann, als ein verzoge- "nes Maul." -- Sehr wahr, und dennoch ist im Munde der Hauptsitz der Verstellung! das heißt: wo will der Mensch Verstellung anbringen, als im Munde? dem einzigen so leicht, so man- nichfaltig beweglichen Theile des Gesichtes, der mehr, wie jeder andere, aller Leidenschaften em- pfänglich ist?
[Abbildung]
Viertes
N 2
Vermiſchte Beobachtungen eines bekannten Dichters.
„mehr ſie ſich einem halben Zirkel naͤhern, der ſich gegen den Mund zuſchleußt, deſto mehr ſcheinen „ſie mir Eigenliebe anzudeuten, und werden unangenehm. Wenn ſie aber wellenfoͤrmig und „ſchlangenartig laufen, ſind ſie hoͤchſt angenehm.“ —
6.
„Die Eroͤffnung des Mundes kann nie genug ſtudiert werden. Jn ihr, deucht mich, ſteckt „die hoͤchſte Charakteriſtik des ganzen Menſchen. Alles Naive, Zaͤrtliche, Maͤnnliche der ganzen „Seele druͤckt ſich da aus. Von dieſem verſchiedenen Ausdrucke ließen ſich Folianten ſchreiben, „und iſt das etwas, das dem unmittelbaren Gefuͤhle des, der einen Menſchen ſtudiert, uͤberlaſſen „werden muß.“ (Und dennoch von einem kuͤnftigen phyſiognomiſchen Zeichner gewiß nahe an be- ſtimmt werden wird.) „Die Muskeln um den Mund herum ſind, deucht mich, dem Sitze der „Seele am naͤchſten, da kann ſich der Menſch am wenigſten verſtellen. Daher das haͤßlichſte Ge- „ſicht angenehm wird, wenn es noch gute Zuͤge am Munde uͤbrig behalten hat, und einem wohl or- „ganiſirten Menſchen nichts in der Natur ſo widrige Empfindungen erregen kann, als ein verzoge- „nes Maul.“ — Sehr wahr, und dennoch iſt im Munde der Hauptſitz der Verſtellung! das heißt: wo will der Menſch Verſtellung anbringen, als im Munde? dem einzigen ſo leicht, ſo man- nichfaltig beweglichen Theile des Geſichtes, der mehr, wie jeder andere, aller Leidenſchaften em- pfaͤnglich iſt?
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Viertes
N 2
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Vermiſchte Beobachtungen eines bekannten Dichters.
„mehr ſie ſich einem halben Zirkel naͤhern, der ſich gegen den Mund zuſchleußt, deſto mehr ſcheinen
„ſie mir Eigenliebe anzudeuten, und werden unangenehm. Wenn ſie aber wellenfoͤrmig und
„ſchlangenartig laufen, ſind ſie hoͤchſt angenehm.“ —
6.
„Die Eroͤffnung des Mundes kann nie genug ſtudiert werden. Jn ihr, deucht mich, ſteckt
„die hoͤchſte Charakteriſtik des ganzen Menſchen. Alles Naive, Zaͤrtliche, Maͤnnliche der ganzen
„Seele druͤckt ſich da aus. Von dieſem verſchiedenen Ausdrucke ließen ſich Folianten ſchreiben,
„und iſt das etwas, das dem unmittelbaren Gefuͤhle des, der einen Menſchen ſtudiert, uͤberlaſſen
„werden muß.“ (Und dennoch von einem kuͤnftigen phyſiognomiſchen Zeichner gewiß nahe an be-
ſtimmt werden wird.) „Die Muskeln um den Mund herum ſind, deucht mich, dem Sitze der
„Seele am naͤchſten, da kann ſich der Menſch am wenigſten verſtellen. Daher das haͤßlichſte Ge-
„ſicht angenehm wird, wenn es noch gute Zuͤge am Munde uͤbrig behalten hat, und einem wohl or-
„ganiſirten Menſchen nichts in der Natur ſo widrige Empfindungen erregen kann, als ein verzoge-
„nes Maul.“ — Sehr wahr, und dennoch iſt im Munde der Hauptſitz der Verſtellung! das
heißt: wo will der Menſch Verſtellung anbringen, als im Munde? dem einzigen ſo leicht, ſo man-
nichfaltig beweglichen Theile des Geſichtes, der mehr, wie jeder andere, aller Leidenſchaften em-
pfaͤnglich iſt?
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/149>, abgerufen am 24.11.2024.
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