"Wir waren im Begriffe auszugehen, als wir eben einen Besuch empfiengen, den wir gar nicht "erwarteten; es waren fünf oder sechs irrländische Officiere von dem Regiment Mahoni. "Zween von diesen Herren waren an Land gekommen, bevor ich abgesegelt hatte. Nachdem sie "mich lange und aufmerksam betrachtet hatten, redte der Eine von ihnen englisch mit mir. Und da "ich ihm auf italiänisch zu verstehen gab, daß ich dieser Sprache unkundig wäre, gab er mir zur "Antwort: daß er drüber erstaunen müsse, da es doch meine Muttersprache wäre. Nein, sagt' ich, "ich bin ein gebohrner Franzose. Ja, erwiederte er, in Frankreich sind Sie gebohren; aber Jhr "Vater und Jhre Mutter waren beyde Jrrländer, und Sie haben hier einen Bruder, Hauptmann "von unserm Regimente, der entzückt seyn wird, Sie zu sehen. -- Jch wußte nicht, wohin das füh- "ren möchte, und fragte bloß: wie er mich erkannt hätte? -- Nichts, versetzte er, war leichter; Sie "sehen Jhrem Bruder in allen Theilen vollkommen so ähnlich, daß man sich hierinn unmöglich irren "kann. Sie dürften nur die Kleider wechseln, und Sie würden uns betriegen können, obgleich "wir Jhren Bruder alle Tage sehen. -- Jst er von Jhren Freunden? fragte ich -- Freylich, ant- "worteten sie. Er hat die größten Verdienste, und wir hoffen bald, daß er unser Obristlieutenant "werden soll. -- Nun dann, wenn dem so ist, meine Herren -- ich freue mich ungemein, einen sol- "chen Bruder zu haben, und ich werde mich befleißen, an der Stelle, wohin die göttliche Fürsehung "mich gesetzt hat, ihm an Verdiensten ähnlich zu werden. Diese Herren nun, begleitet von drey "andern, führten mir Morgens drauf meinen vorgegebenen Bruder zu. Die Aehnlichkeit zwischen "ihm und mir war so ganz, und so vollkommen -- Taille, Gesicht, Haare, Farbe der Augen, Ge- "sichtsfarbe, Pockennarben, Gang, Ton der Stimme, Laune sogar -- und ich könnte sagen, die "Gedanken waren so ganz die einen und ebendieselben mit den meinigen, so genau, daß, je mehr wir "einander ansahen, desto ähnlicher fanden wir uns. Wir umarmten uns mehrmals, und wir "wurden in einem Augenblicke die genauesten Freunde." Voyage du P. Lubus en Espagne & en Italie. T. V. p. 88.
Einleitung.
Anekdote.
„Wir waren im Begriffe auszugehen, als wir eben einen Beſuch empfiengen, den wir gar nicht „erwarteten; es waren fuͤnf oder ſechs irrlaͤndiſche Officiere von dem Regiment Mahoni. „Zween von dieſen Herren waren an Land gekommen, bevor ich abgeſegelt hatte. Nachdem ſie „mich lange und aufmerkſam betrachtet hatten, redte der Eine von ihnen engliſch mit mir. Und da „ich ihm auf italiaͤniſch zu verſtehen gab, daß ich dieſer Sprache unkundig waͤre, gab er mir zur „Antwort: daß er druͤber erſtaunen muͤſſe, da es doch meine Mutterſprache waͤre. Nein, ſagt’ ich, „ich bin ein gebohrner Franzoſe. Ja, erwiederte er, in Frankreich ſind Sie gebohren; aber Jhr „Vater und Jhre Mutter waren beyde Jrrlaͤnder, und Sie haben hier einen Bruder, Hauptmann „von unſerm Regimente, der entzuͤckt ſeyn wird, Sie zu ſehen. — Jch wußte nicht, wohin das fuͤh- „ren moͤchte, und fragte bloß: wie er mich erkannt haͤtte? — Nichts, verſetzte er, war leichter; Sie „ſehen Jhrem Bruder in allen Theilen vollkommen ſo aͤhnlich, daß man ſich hierinn unmoͤglich irren „kann. Sie duͤrften nur die Kleider wechſeln, und Sie wuͤrden uns betriegen koͤnnen, obgleich „wir Jhren Bruder alle Tage ſehen. — Jſt er von Jhren Freunden? fragte ich — Freylich, ant- „worteten ſie. Er hat die groͤßten Verdienſte, und wir hoffen bald, daß er unſer Obriſtlieutenant „werden ſoll. — Nun dann, wenn dem ſo iſt, meine Herren — ich freue mich ungemein, einen ſol- „chen Bruder zu haben, und ich werde mich befleißen, an der Stelle, wohin die goͤttliche Fuͤrſehung „mich geſetzt hat, ihm an Verdienſten aͤhnlich zu werden. Dieſe Herren nun, begleitet von drey „andern, fuͤhrten mir Morgens drauf meinen vorgegebenen Bruder zu. Die Aehnlichkeit zwiſchen „ihm und mir war ſo ganz, und ſo vollkommen — Taille, Geſicht, Haare, Farbe der Augen, Ge- „ſichtsfarbe, Pockennarben, Gang, Ton der Stimme, Laune ſogar — und ich koͤnnte ſagen, die „Gedanken waren ſo ganz die einen und ebendieſelben mit den meinigen, ſo genau, daß, je mehr wir „einander anſahen, deſto aͤhnlicher fanden wir uns. Wir umarmten uns mehrmals, und wir „wurden in einem Augenblicke die genaueſten Freunde.“ Voyage du P. Lubus en Eſpagne & en Italie. T. V. p. 88.
Einleitung.
<TEI><text><front><pbfacs="#f0016"/><divn="2"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Anekdote.</hi></hi></head><lb/><cit><quote>„<hirendition="#in">W</hi>ir waren im Begriffe auszugehen, als wir eben einen Beſuch empfiengen, den wir gar nicht<lb/>„erwarteten; es waren fuͤnf oder ſechs irrlaͤndiſche Officiere von dem Regiment <hirendition="#fr">Mahoni.</hi><lb/>„Zween von dieſen Herren waren an Land gekommen, bevor ich abgeſegelt hatte. Nachdem ſie<lb/>„mich lange und aufmerkſam betrachtet hatten, redte der Eine von ihnen engliſch mit mir. Und da<lb/>„ich ihm auf italiaͤniſch zu verſtehen gab, daß ich dieſer Sprache unkundig waͤre, gab er mir zur<lb/>„Antwort: daß er druͤber erſtaunen muͤſſe, da es doch meine Mutterſprache waͤre. Nein, ſagt’ ich,<lb/>„ich bin ein gebohrner Franzoſe. Ja, erwiederte er, in Frankreich ſind Sie gebohren; aber Jhr<lb/>„Vater und Jhre Mutter waren beyde Jrrlaͤnder, und Sie haben hier einen Bruder, Hauptmann<lb/>„von unſerm Regimente, der entzuͤckt ſeyn wird, Sie zu ſehen. — Jch wußte nicht, wohin das fuͤh-<lb/>„ren moͤchte, und fragte bloß: wie er mich erkannt haͤtte? — Nichts, verſetzte er, war leichter; Sie<lb/>„ſehen Jhrem Bruder in allen Theilen vollkommen ſo aͤhnlich, daß man ſich hierinn unmoͤglich irren<lb/>„kann. Sie duͤrften nur die Kleider wechſeln, und Sie wuͤrden uns betriegen koͤnnen, obgleich<lb/>„wir Jhren Bruder alle Tage ſehen. — Jſt er von Jhren Freunden? fragte ich — Freylich, ant-<lb/>„worteten ſie. Er hat die groͤßten Verdienſte, und wir hoffen bald, daß er unſer Obriſtlieutenant<lb/>„werden ſoll. — Nun dann, wenn dem ſo iſt, meine Herren — ich freue mich ungemein, einen ſol-<lb/>„chen Bruder zu haben, und ich werde mich befleißen, an der Stelle, wohin die goͤttliche Fuͤrſehung<lb/>„mich geſetzt hat, ihm an Verdienſten aͤhnlich zu werden. Dieſe Herren nun, begleitet von drey<lb/>„andern, fuͤhrten mir Morgens drauf meinen vorgegebenen Bruder zu. Die Aehnlichkeit zwiſchen<lb/>„ihm und mir war ſo ganz, und ſo vollkommen — Taille, Geſicht, Haare, Farbe der Augen, Ge-<lb/>„ſichtsfarbe, Pockennarben, Gang, Ton der Stimme, Laune ſogar — und ich koͤnnte ſagen, die<lb/>„Gedanken waren ſo ganz die einen und ebendieſelben mit den meinigen, ſo genau, daß, je mehr wir<lb/>„einander anſahen, deſto aͤhnlicher fanden wir uns. Wir umarmten uns mehrmals, und wir<lb/>„wurden in einem Augenblicke die genaueſten Freunde.“<lb/><hirendition="#et"><hirendition="#aq">Voyage du P. Lubus en Eſpagne & en Italie.<lb/>
T. V. p.</hi> 88.</hi></quote></cit><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#b">Einleitung.</hi></fw></div></front><body><lb/></body></text></TEI>
[0016]
Anekdote.
„Wir waren im Begriffe auszugehen, als wir eben einen Beſuch empfiengen, den wir gar nicht
„erwarteten; es waren fuͤnf oder ſechs irrlaͤndiſche Officiere von dem Regiment Mahoni.
„Zween von dieſen Herren waren an Land gekommen, bevor ich abgeſegelt hatte. Nachdem ſie
„mich lange und aufmerkſam betrachtet hatten, redte der Eine von ihnen engliſch mit mir. Und da
„ich ihm auf italiaͤniſch zu verſtehen gab, daß ich dieſer Sprache unkundig waͤre, gab er mir zur
„Antwort: daß er druͤber erſtaunen muͤſſe, da es doch meine Mutterſprache waͤre. Nein, ſagt’ ich,
„ich bin ein gebohrner Franzoſe. Ja, erwiederte er, in Frankreich ſind Sie gebohren; aber Jhr
„Vater und Jhre Mutter waren beyde Jrrlaͤnder, und Sie haben hier einen Bruder, Hauptmann
„von unſerm Regimente, der entzuͤckt ſeyn wird, Sie zu ſehen. — Jch wußte nicht, wohin das fuͤh-
„ren moͤchte, und fragte bloß: wie er mich erkannt haͤtte? — Nichts, verſetzte er, war leichter; Sie
„ſehen Jhrem Bruder in allen Theilen vollkommen ſo aͤhnlich, daß man ſich hierinn unmoͤglich irren
„kann. Sie duͤrften nur die Kleider wechſeln, und Sie wuͤrden uns betriegen koͤnnen, obgleich
„wir Jhren Bruder alle Tage ſehen. — Jſt er von Jhren Freunden? fragte ich — Freylich, ant-
„worteten ſie. Er hat die groͤßten Verdienſte, und wir hoffen bald, daß er unſer Obriſtlieutenant
„werden ſoll. — Nun dann, wenn dem ſo iſt, meine Herren — ich freue mich ungemein, einen ſol-
„chen Bruder zu haben, und ich werde mich befleißen, an der Stelle, wohin die goͤttliche Fuͤrſehung
„mich geſetzt hat, ihm an Verdienſten aͤhnlich zu werden. Dieſe Herren nun, begleitet von drey
„andern, fuͤhrten mir Morgens drauf meinen vorgegebenen Bruder zu. Die Aehnlichkeit zwiſchen
„ihm und mir war ſo ganz, und ſo vollkommen — Taille, Geſicht, Haare, Farbe der Augen, Ge-
„ſichtsfarbe, Pockennarben, Gang, Ton der Stimme, Laune ſogar — und ich koͤnnte ſagen, die
„Gedanken waren ſo ganz die einen und ebendieſelben mit den meinigen, ſo genau, daß, je mehr wir
„einander anſahen, deſto aͤhnlicher fanden wir uns. Wir umarmten uns mehrmals, und wir
„wurden in einem Augenblicke die genaueſten Freunde.“
Voyage du P. Lubus en Eſpagne & en Italie.
T. V. p. 88.
Einleitung.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/16>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.