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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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VII. Abschnitt. I. Fragment.
c) Dann Auge zum Beobachten. Millionen Augen sehen, sehen gut -- und beobachten
nicht. Es giebt so gar mittelmäßige Augen, die sehr gut beobachten. Nicht alle Falkenaugen sind
Beobachtersaugen. Freylich ist ein gutes, scharfes Auge zum Beobachten besser, als ein
schwaches.
Und was giebt nun Beobachtungsgeist dem mittelmäßigen oder guten Auge? --
d) Gefühl und Liebe.
"Aber unzählige kalte Seelen sind die besten Beobachter?" -- Ja und nein -- kalt und
gefühllos in tausend andern Dingen -- Aber das, was leicht und hell beobachtet werden muß,
muß dem Beobachter lieb seyn; für das muß er Sinn und Gefühl und Fiber und Nerven haben.
Es bleibt ewiges Gesetz der Natur -- daß die Liebe die sehendste Beobachterinn ist. Liebe --
Sympathie, anerkannte oder unerkannte Mitstimmung mit dem Objekte. Liebe -- oder auch
Haß? Haß? auch ja! denn was ist Haß, als Liebe der Fehler; Freude an Unvollkommen-
heiten
anderer? Der schärfste Fehlerbeobachter ist's nur durch Liebe der Fehler des andern. Also
bleibt's mir ausgemachte Erfahrungssache, daß Liebe die Seele der Kunst ist; Wohlgefallen
an irgend einer Vollkommenheit, oder Unvollkommenheit der Natur. Wohlgefallen an Adel und
Schönheit bildet Raphaels. Wohlgefallen an Mißgestalt und lächerlichen Charaktern Hogarths.
Also keine Kunst in der Welt ohne Liebe, ohne Gefühl, ohne Rührung gewisser Saiten in unse-
rer Natur durch gewisse Objekte. Der rohgebauteste Künstler also muß wenigstens für das, was
den Gegenstand seiner Kunst ausmacht, einen feinen Sinn, ein elastisches Gefühl haben.
Und dann e) Kraft, Folgsamkeit und Freyheit der Hand; und das kann nicht fehlen.
Wo Gefühl ist, da Kraft, im Verhältniß mit dem Gefühle -- derselbe Nerve ist in der Hand --
der sich in deiner Brust sanftzitternd zu schwingen scheint -- wenn du den geliebten Gegenstand
erblickest -- Wichtige Wahrheit -- Leser! wo Gefühl ist -- da ist Kraft. So viel Ge-
fühl, so viel Kraft;
-- Kraft nämlich in der Anlage! Unentwickelt vielleicht -- aber da ist sie!
da, und der Entwickelung fähig ist sie. Gefühl wächst und fällt mit der Kraft. Kraft
wächst und fällt mit dem Gefühle.
Warum aber dann so oft so feines Gefühl im Beob-
achten
VII. Abſchnitt. I. Fragment.
c) Dann Auge zum Beobachten. Millionen Augen ſehen, ſehen gut — und beobachten
nicht. Es giebt ſo gar mittelmaͤßige Augen, die ſehr gut beobachten. Nicht alle Falkenaugen ſind
Beobachtersaugen. Freylich iſt ein gutes, ſcharfes Auge zum Beobachten beſſer, als ein
ſchwaches.
Und was giebt nun Beobachtungsgeiſt dem mittelmaͤßigen oder guten Auge? —
d) Gefuͤhl und Liebe.
„Aber unzaͤhlige kalte Seelen ſind die beſten Beobachter?“ — Ja und nein — kalt und
gefuͤhllos in tauſend andern Dingen — Aber das, was leicht und hell beobachtet werden muß,
muß dem Beobachter lieb ſeyn; fuͤr das muß er Sinn und Gefuͤhl und Fiber und Nerven haben.
Es bleibt ewiges Geſetz der Natur — daß die Liebe die ſehendſte Beobachterinn iſt. Liebe —
Sympathie, anerkannte oder unerkannte Mitſtimmung mit dem Objekte. Liebe — oder auch
Haß? Haß? auch ja! denn was iſt Haß, als Liebe der Fehler; Freude an Unvollkommen-
heiten
anderer? Der ſchaͤrfſte Fehlerbeobachter iſt’s nur durch Liebe der Fehler des andern. Alſo
bleibt’s mir ausgemachte Erfahrungsſache, daß Liebe die Seele der Kunſt iſt; Wohlgefallen
an irgend einer Vollkommenheit, oder Unvollkommenheit der Natur. Wohlgefallen an Adel und
Schoͤnheit bildet Raphaels. Wohlgefallen an Mißgeſtalt und laͤcherlichen Charaktern Hogarths.
Alſo keine Kunſt in der Welt ohne Liebe, ohne Gefuͤhl, ohne Ruͤhrung gewiſſer Saiten in unſe-
rer Natur durch gewiſſe Objekte. Der rohgebauteſte Kuͤnſtler alſo muß wenigſtens fuͤr das, was
den Gegenſtand ſeiner Kunſt ausmacht, einen feinen Sinn, ein elaſtiſches Gefuͤhl haben.
Und dann e) Kraft, Folgſamkeit und Freyheit der Hand; und das kann nicht fehlen.
Wo Gefuͤhl iſt, da Kraft, im Verhaͤltniß mit dem Gefuͤhle — derſelbe Nerve iſt in der Hand —
der ſich in deiner Bruſt ſanftzitternd zu ſchwingen ſcheint — wenn du den geliebten Gegenſtand
erblickeſt — Wichtige Wahrheit — Leſer! wo Gefuͤhl iſt — da iſt Kraft. So viel Ge-
fuͤhl, ſo viel Kraft;
— Kraft naͤmlich in der Anlage! Unentwickelt vielleicht — aber da iſt ſie!
da, und der Entwickelung faͤhig iſt ſie. Gefuͤhl waͤchſt und faͤllt mit der Kraft. Kraft
waͤchſt und faͤllt mit dem Gefuͤhle.
Warum aber dann ſo oft ſo feines Gefuͤhl im Beob-
achten
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[166/0268] VII. Abſchnitt. I. Fragment. c) Dann Auge zum Beobachten. Millionen Augen ſehen, ſehen gut — und beobachten nicht. Es giebt ſo gar mittelmaͤßige Augen, die ſehr gut beobachten. Nicht alle Falkenaugen ſind Beobachtersaugen. Freylich iſt ein gutes, ſcharfes Auge zum Beobachten beſſer, als ein ſchwaches. Und was giebt nun Beobachtungsgeiſt dem mittelmaͤßigen oder guten Auge? — d) Gefuͤhl und Liebe. „Aber unzaͤhlige kalte Seelen ſind die beſten Beobachter?“ — Ja und nein — kalt und gefuͤhllos in tauſend andern Dingen — Aber das, was leicht und hell beobachtet werden muß, muß dem Beobachter lieb ſeyn; fuͤr das muß er Sinn und Gefuͤhl und Fiber und Nerven haben. Es bleibt ewiges Geſetz der Natur — daß die Liebe die ſehendſte Beobachterinn iſt. Liebe — Sympathie, anerkannte oder unerkannte Mitſtimmung mit dem Objekte. Liebe — oder auch Haß? Haß? auch ja! denn was iſt Haß, als Liebe der Fehler; Freude an Unvollkommen- heiten anderer? Der ſchaͤrfſte Fehlerbeobachter iſt’s nur durch Liebe der Fehler des andern. Alſo bleibt’s mir ausgemachte Erfahrungsſache, daß Liebe die Seele der Kunſt iſt; Wohlgefallen an irgend einer Vollkommenheit, oder Unvollkommenheit der Natur. Wohlgefallen an Adel und Schoͤnheit bildet Raphaels. Wohlgefallen an Mißgeſtalt und laͤcherlichen Charaktern Hogarths. Alſo keine Kunſt in der Welt ohne Liebe, ohne Gefuͤhl, ohne Ruͤhrung gewiſſer Saiten in unſe- rer Natur durch gewiſſe Objekte. Der rohgebauteſte Kuͤnſtler alſo muß wenigſtens fuͤr das, was den Gegenſtand ſeiner Kunſt ausmacht, einen feinen Sinn, ein elaſtiſches Gefuͤhl haben. Und dann e) Kraft, Folgſamkeit und Freyheit der Hand; und das kann nicht fehlen. Wo Gefuͤhl iſt, da Kraft, im Verhaͤltniß mit dem Gefuͤhle — derſelbe Nerve iſt in der Hand — der ſich in deiner Bruſt ſanftzitternd zu ſchwingen ſcheint — wenn du den geliebten Gegenſtand erblickeſt — Wichtige Wahrheit — Leſer! wo Gefuͤhl iſt — da iſt Kraft. So viel Ge- fuͤhl, ſo viel Kraft; — Kraft naͤmlich in der Anlage! Unentwickelt vielleicht — aber da iſt ſie! da, und der Entwickelung faͤhig iſt ſie. Gefuͤhl waͤchſt und faͤllt mit der Kraft. Kraft waͤchſt und faͤllt mit dem Gefuͤhle. Warum aber dann ſo oft ſo feines Gefuͤhl im Beob- achten

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/268>, abgerufen am 22.11.2024.