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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Siebentes Fragment.
Rücksicht oder Beschluß.

Denn die Rücksicht ist noch zu frühe -- der dichterischen Köpfe, die wir vorgeführet haben, sind
noch zu wenig ... So viel indeß immer, daß sie, wohl beobachtet und verglichen, den Forscher
und den Leser von zusammenfassendem Blicke, von umspannendem Gefühle -- auf gewisse Haupt-
gesichtspunkte leiten, oder von selbst dahin zu gehen, werden veranlassen können. Jch glaube, nun
noch entscheidender behaupten zu dürfen, daß alles hart Scharfe, angezogne Spitze, alles
Perpendikulare ein Gesicht -- undichterisch macht. Die geraden Linien sind des Ver-
standes,
der Kälte -- der Härte -- Also bleibe jeder in dem Berufe, wie er berufen ist,
und wie Gott einem jeden das Maaß des Glaubens und des Gefühles mitgetheilet hat.

Jst einer zur kalten Ueberlegung und Zergliederung berufen, so affektir' er, such' er, erzwing' er
keine warme Empfindung -- Baute und bildete Gott einen aus wärmerm und weicherm Stoffe --
er affektire, suche, und erzwinge keine Mannheit und Stärke, die er nicht haben kann, und nicht
soll. Jeder Mensch, der außer seinen Kreis herausgeht, wird lächerlich und unglücklich. Nie-
mand wohl lächerlicher, niemand sich selber verderbender -- als wer ohne Dichtergeist Dichterey
erzwingen will. So wenig einer sich eine liegende gebogne Stirn für eine perpendikulare eintau-
schen kann; so wenig kann ein mathematisches Genie ein poetisches seyn. Es giebt poetische Ver-
nunft,
und poetische Genies. So giebt's mathematische Vernünftler, und mathematische
Genies. Vernunft wird nie Genie. Nicht einmal mathematische Vernünftler -- werden
mathematische Genies -- wie viel weniger kann je kalte Vernunft poetisches Genie werden? Also
prüfe sich jeder, weß Geistes Kind er sey, was er könne, und können soll? Und so blieb' es denn
bey dem alten: Poeten werden geboren, nicht gemacht. Geboren -- aber doch wie alle
andere Menschenkinder, mit Schmerzen, und selten ohne Wehmütter. --

Zum
Phys. Fragm. III Versuch. F f
Siebentes Fragment.
Ruͤckſicht oder Beſchluß.

Denn die Ruͤckſicht iſt noch zu fruͤhe — der dichteriſchen Koͤpfe, die wir vorgefuͤhret haben, ſind
noch zu wenig ... So viel indeß immer, daß ſie, wohl beobachtet und verglichen, den Forſcher
und den Leſer von zuſammenfaſſendem Blicke, von umſpannendem Gefuͤhle — auf gewiſſe Haupt-
geſichtspunkte leiten, oder von ſelbſt dahin zu gehen, werden veranlaſſen koͤnnen. Jch glaube, nun
noch entſcheidender behaupten zu duͤrfen, daß alles hart Scharfe, angezogne Spitze, alles
Perpendikulare ein Geſicht — undichteriſch macht. Die geraden Linien ſind des Ver-
ſtandes,
der Kaͤlte — der Haͤrte — Alſo bleibe jeder in dem Berufe, wie er berufen iſt,
und wie Gott einem jeden das Maaß des Glaubens und des Gefuͤhles mitgetheilet hat.

Jſt einer zur kalten Ueberlegung und Zergliederung berufen, ſo affektir’ er, ſuch’ er, erzwing’ er
keine warme Empfindung — Baute und bildete Gott einen aus waͤrmerm und weicherm Stoffe —
er affektire, ſuche, und erzwinge keine Mannheit und Staͤrke, die er nicht haben kann, und nicht
ſoll. Jeder Menſch, der außer ſeinen Kreis herausgeht, wird laͤcherlich und ungluͤcklich. Nie-
mand wohl laͤcherlicher, niemand ſich ſelber verderbender — als wer ohne Dichtergeiſt Dichterey
erzwingen will. So wenig einer ſich eine liegende gebogne Stirn fuͤr eine perpendikulare eintau-
ſchen kann; ſo wenig kann ein mathematiſches Genie ein poetiſches ſeyn. Es giebt poetiſche Ver-
nunft,
und poetiſche Genies. So giebt’s mathematiſche Vernuͤnftler, und mathematiſche
Genies. Vernunft wird nie Genie. Nicht einmal mathematiſche Vernuͤnftler — werden
mathematiſche Genies — wie viel weniger kann je kalte Vernunft poetiſches Genie werden? Alſo
pruͤfe ſich jeder, weß Geiſtes Kind er ſey, was er koͤnne, und koͤnnen ſoll? Und ſo blieb’ es denn
bey dem alten: Poeten werden geboren, nicht gemacht. Geboren — aber doch wie alle
andere Menſchenkinder, mit Schmerzen, und ſelten ohne Wehmuͤtter.

Zum
Phyſ. Fragm. III Verſuch. F f
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[225/0373] Siebentes Fragment. Ruͤckſicht oder Beſchluß. Denn die Ruͤckſicht iſt noch zu fruͤhe — der dichteriſchen Koͤpfe, die wir vorgefuͤhret haben, ſind noch zu wenig ... So viel indeß immer, daß ſie, wohl beobachtet und verglichen, den Forſcher und den Leſer von zuſammenfaſſendem Blicke, von umſpannendem Gefuͤhle — auf gewiſſe Haupt- geſichtspunkte leiten, oder von ſelbſt dahin zu gehen, werden veranlaſſen koͤnnen. Jch glaube, nun noch entſcheidender behaupten zu duͤrfen, daß alles hart Scharfe, angezogne Spitze, alles Perpendikulare ein Geſicht — undichteriſch macht. Die geraden Linien ſind des Ver- ſtandes, der Kaͤlte — der Haͤrte — Alſo bleibe jeder in dem Berufe, wie er berufen iſt, und wie Gott einem jeden das Maaß des Glaubens und des Gefuͤhles mitgetheilet hat. Jſt einer zur kalten Ueberlegung und Zergliederung berufen, ſo affektir’ er, ſuch’ er, erzwing’ er keine warme Empfindung — Baute und bildete Gott einen aus waͤrmerm und weicherm Stoffe — er affektire, ſuche, und erzwinge keine Mannheit und Staͤrke, die er nicht haben kann, und nicht ſoll. Jeder Menſch, der außer ſeinen Kreis herausgeht, wird laͤcherlich und ungluͤcklich. Nie- mand wohl laͤcherlicher, niemand ſich ſelber verderbender — als wer ohne Dichtergeiſt Dichterey erzwingen will. So wenig einer ſich eine liegende gebogne Stirn fuͤr eine perpendikulare eintau- ſchen kann; ſo wenig kann ein mathematiſches Genie ein poetiſches ſeyn. Es giebt poetiſche Ver- nunft, und poetiſche Genies. So giebt’s mathematiſche Vernuͤnftler, und mathematiſche Genies. Vernunft wird nie Genie. Nicht einmal mathematiſche Vernuͤnftler — werden mathematiſche Genies — wie viel weniger kann je kalte Vernunft poetiſches Genie werden? Alſo pruͤfe ſich jeder, weß Geiſtes Kind er ſey, was er koͤnne, und koͤnnen ſoll? Und ſo blieb’ es denn bey dem alten: Poeten werden geboren, nicht gemacht. Geboren — aber doch wie alle andere Menſchenkinder, mit Schmerzen, und ſelten ohne Wehmuͤtter. — Zum Phyſ. Fragm. III Verſuch. F f

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/373>, abgerufen am 22.11.2024.