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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Allgemeine Betrachtungen.
mächtigstwürkenden -- (oder nennt mir einen, der besser und weiser war, und mehr oder nur so
in die Länge und Breite, in die Höhe und Tiefe würkte) -- und Christusreligion -- die so
unmittelbar aus dem Allerheiligsten des Himmels ausgieng, und dahin kehrt -- diese -- wollt
ihr -- gute? weise? Menschen? die so viel von Menschenwürde, Menschenkraft sprechen,
schreiben, predigen -- diese wollt ihr -- wegsprechen? wegschreiben? wegpredigen? -- So viel
an euch liegt
-- nämlich! denn daß der Herr im Himmel euer lacht, weiß ich. Und ihr kün-
digt euch als Menschenfreunde an? laßt euch für das so gern ansehen -- und wollt nicht, daß
man Sinn habe für Christus? den besten aller Menschen -- den Gottnahesten -- was ihr sel-
ber nicht läugnen dürft -- nicht solltet wenigstens, bis ihr uns einen bessern, Gottnähern an
seine Stelle gesetzt habt -- O ihr Menschenfreunde -- kann's eine ärgere Lästerung geben, als
diesen Namen -- an Religionsfeinde und Christusfeinde verschwendet -- Menschenfreun-
de
-- und die höchste unüberfliegbare Würde und Ehre der Menschheit -- Religion Chri-
stus -- diese
-- wollt ihr zertreten? Der Mensch soll nur sehen, und nicht glauben? nur ge-
nießen,
und nicht satt werden? nur leiden, und nicht hoffen? nur wissen, und nicht empfin-
den?
nur handeln, und Wellen erregen, und Geräusch machen -- und nicht innig lie-
ben,
auch wenn er nicht handeln kann? -- Denn tausendmal gegen eins kann er's nicht!
Der Mensch soll sich klein fühlen? unersättlichen Durst nach Größe fühlen, und den glaubwür-
digsten Helfer und Erhöher, den nicht suchen dürfen im Himmel, da er ihn auf Erden nicht finden
kann? Sich nicht anklammern dürfen an den Hohen, der einst in der Tiefe dieses Planeten -- un-
ter Lasten der Menschheit schmachtete, wie Menschen schmachten, um aller Schmachtenden Labsal
zu seyn. O ihr Menschlichkeitspropheten! o ihr Herolde der Tugend! o ihr Vernunftssöhne! --
das lehrt euch die Vernunft? -- Nein! heilige Tochter Gottes, das lehrst du sie nicht -- so we-
nig du sie lehrest, ihre lebenden Angesichter an leblose und häßliche Larven zu vertauschen.

Ewig bleibt's Bedürfniß und Ehre der Menschheit -- Gottheit! und eine menschliche
Gottheit! Ewig Vorzug und Ehre der Menschennatur -- einen unsichtbaren Gott anzubeten, als
wäre er sichtbar -- im Geist und in der Wahrheit -- und diesen Gott in Menschengestalt --
als Ebenbild des Unerforschlichen, Unausdenklichen zu glauben -- diesen Glauben und diese
Religion,
denn beydes ist genau Eins -- diesen Glauben an Gott, diese Religion Christus ver-

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G g 2

Allgemeine Betrachtungen.
maͤchtigſtwuͤrkenden — (oder nennt mir einen, der beſſer und weiſer war, und mehr oder nur ſo
in die Laͤnge und Breite, in die Hoͤhe und Tiefe wuͤrkte) — und Chriſtusreligion — die ſo
unmittelbar aus dem Allerheiligſten des Himmels ausgieng, und dahin kehrt — dieſe — wollt
ihr — gute? weiſe? Menſchen? die ſo viel von Menſchenwuͤrde, Menſchenkraft ſprechen,
ſchreiben, predigen — dieſe wollt ihr — wegſprechen? wegſchreiben? wegpredigen? — So viel
an euch liegt
— naͤmlich! denn daß der Herr im Himmel euer lacht, weiß ich. Und ihr kuͤn-
digt euch als Menſchenfreunde an? laßt euch fuͤr das ſo gern anſehen — und wollt nicht, daß
man Sinn habe fuͤr Chriſtus? den beſten aller Menſchen — den Gottnaheſten — was ihr ſel-
ber nicht laͤugnen duͤrft — nicht ſolltet wenigſtens, bis ihr uns einen beſſern, Gottnaͤhern an
ſeine Stelle geſetzt habt — O ihr Menſchenfreunde — kann’s eine aͤrgere Laͤſterung geben, als
dieſen Namen — an Religionsfeinde und Chriſtusfeinde verſchwendet — Menſchenfreun-
de
— und die hoͤchſte unuͤberfliegbare Wuͤrde und Ehre der Menſchheit — Religion Chri-
ſtus — dieſe
— wollt ihr zertreten? Der Menſch ſoll nur ſehen, und nicht glauben? nur ge-
nießen,
und nicht ſatt werden? nur leiden, und nicht hoffen? nur wiſſen, und nicht empfin-
den?
nur handeln, und Wellen erregen, und Geraͤuſch machen — und nicht innig lie-
ben,
auch wenn er nicht handeln kann? — Denn tauſendmal gegen eins kann er’s nicht!
Der Menſch ſoll ſich klein fuͤhlen? unerſaͤttlichen Durſt nach Groͤße fuͤhlen, und den glaubwuͤr-
digſten Helfer und Erhoͤher, den nicht ſuchen duͤrfen im Himmel, da er ihn auf Erden nicht finden
kann? Sich nicht anklammern duͤrfen an den Hohen, der einſt in der Tiefe dieſes Planeten — un-
ter Laſten der Menſchheit ſchmachtete, wie Menſchen ſchmachten, um aller Schmachtenden Labſal
zu ſeyn. O ihr Menſchlichkeitspropheten! o ihr Herolde der Tugend! o ihr Vernunftsſoͤhne! —
das lehrt euch die Vernunft? — Nein! heilige Tochter Gottes, das lehrſt du ſie nicht — ſo we-
nig du ſie lehreſt, ihre lebenden Angeſichter an lebloſe und haͤßliche Larven zu vertauſchen.

Ewig bleibt’s Beduͤrfniß und Ehre der Menſchheit — Gottheit! und eine menſchliche
Gottheit! Ewig Vorzug und Ehre der Menſchennatur — einen unſichtbaren Gott anzubeten, als
waͤre er ſichtbar — im Geiſt und in der Wahrheit — und dieſen Gott in Menſchengeſtalt
als Ebenbild des Unerforſchlichen, Unausdenklichen zu glauben — dieſen Glauben und dieſe
Religion,
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[235/0383] Allgemeine Betrachtungen. maͤchtigſtwuͤrkenden — (oder nennt mir einen, der beſſer und weiſer war, und mehr oder nur ſo in die Laͤnge und Breite, in die Hoͤhe und Tiefe wuͤrkte) — und Chriſtusreligion — die ſo unmittelbar aus dem Allerheiligſten des Himmels ausgieng, und dahin kehrt — dieſe — wollt ihr — gute? weiſe? Menſchen? die ſo viel von Menſchenwuͤrde, Menſchenkraft ſprechen, ſchreiben, predigen — dieſe wollt ihr — wegſprechen? wegſchreiben? wegpredigen? — So viel an euch liegt — naͤmlich! denn daß der Herr im Himmel euer lacht, weiß ich. Und ihr kuͤn- digt euch als Menſchenfreunde an? laßt euch fuͤr das ſo gern anſehen — und wollt nicht, daß man Sinn habe fuͤr Chriſtus? den beſten aller Menſchen — den Gottnaheſten — was ihr ſel- ber nicht laͤugnen duͤrft — nicht ſolltet wenigſtens, bis ihr uns einen beſſern, Gottnaͤhern an ſeine Stelle geſetzt habt — O ihr Menſchenfreunde — kann’s eine aͤrgere Laͤſterung geben, als dieſen Namen — an Religionsfeinde und Chriſtusfeinde verſchwendet — Menſchenfreun- de — und die hoͤchſte unuͤberfliegbare Wuͤrde und Ehre der Menſchheit — Religion Chri- ſtus — dieſe — wollt ihr zertreten? Der Menſch ſoll nur ſehen, und nicht glauben? nur ge- nießen, und nicht ſatt werden? nur leiden, und nicht hoffen? nur wiſſen, und nicht empfin- den? nur handeln, und Wellen erregen, und Geraͤuſch machen — und nicht innig lie- ben, auch wenn er nicht handeln kann? — Denn tauſendmal gegen eins kann er’s nicht! Der Menſch ſoll ſich klein fuͤhlen? unerſaͤttlichen Durſt nach Groͤße fuͤhlen, und den glaubwuͤr- digſten Helfer und Erhoͤher, den nicht ſuchen duͤrfen im Himmel, da er ihn auf Erden nicht finden kann? Sich nicht anklammern duͤrfen an den Hohen, der einſt in der Tiefe dieſes Planeten — un- ter Laſten der Menſchheit ſchmachtete, wie Menſchen ſchmachten, um aller Schmachtenden Labſal zu ſeyn. O ihr Menſchlichkeitspropheten! o ihr Herolde der Tugend! o ihr Vernunftsſoͤhne! — das lehrt euch die Vernunft? — Nein! heilige Tochter Gottes, das lehrſt du ſie nicht — ſo we- nig du ſie lehreſt, ihre lebenden Angeſichter an lebloſe und haͤßliche Larven zu vertauſchen. Ewig bleibt’s Beduͤrfniß und Ehre der Menſchheit — Gottheit! und eine menſchliche Gottheit! Ewig Vorzug und Ehre der Menſchennatur — einen unſichtbaren Gott anzubeten, als waͤre er ſichtbar — im Geiſt und in der Wahrheit — und dieſen Gott in Menſchengeſtalt — als Ebenbild des Unerforſchlichen, Unausdenklichen zu glauben — dieſen Glauben und dieſe Religion, denn beydes iſt genau Eins — dieſen Glauben an Gott, dieſe Religion Chriſtus ver- bannen G g 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/383>, abgerufen am 22.11.2024.