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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Allgemeine Betrachtungen.
nicht mit jedem Schlage des Herzens an die Gränzen der Menschheit, in alle Punkte des Ange-
sichtes ergießen? nicht ihre unmißverstehbare Sprache sprechen in alle geöffnete Ohren derer, die
aus der Wahrheit sind?



Andacht -- Gottesanbetung -- Gottes! -- Wie darf eine Hand von Erde dieß Wort
ohne Zittern hinschreiben -- wenn Einmal nur ächte, reine Gottesempfindung und Erfahrung
sich in dem Allerheiligsten der Seele zu regen schien! -- Andacht -- du Ehre der Menschheit -- du
Stral aus der höhern Welt -- welche Menschenhand wagt's -- dich zu beschreiben, und deine
Züge, deine Reinheit, deinen Adel nachzuzeichnen! welcher Unglaube wagt's, deine unbeschreibli-
che Sichtbarkeit in dem Angesichte des Menschen zu längnen? Und deine Himmelszüge -- Geduld!
Geduld der Liebe! -- verloren im Hinschauen und Nachschweben dessen -- der unter den Cent-
nerlasten seiner Leiden sich aufrichtete, und sie sich durch die Bitte erträglich zu machen suchte: Va-
ter! vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun
-- deine Gestalt und deine Mie-
nen
-- welche Engelshand kann sie mit Erde oder mit der Kohle zeichnen?

Wenn ein Satan in Menschengestalt, der größte, den ich mir denken kann, der unsern
Nachtmahlwein vergiftete, wenn der sagen darf -- (und wie schaamlos muß der gegen alle
Menschenempfindung zu sprechen gewohnt seyn?) wenn der sagen darf, daß die Erde etwas schö-
neres hat -- als ein wohlgebildetes menschliches Wesen voll Weisheit und Güte -- das die Gott-
heit mit kindlichem Glauben anbetet, und sich seines Daseyns um seiner Unsterblichkeit willen, und
seiner Unsterblichkeit um Gottes willen freut -- wofern es ihm vergönnt würde, ein solches anzuse-
hen -- -- so will ich kein Wort mehr von Physiognomie, und keines von Religion sagen --
Ja! -- Namenloser, wenn es möglich gewesen wäre, daß du dir eine einzige redlich andächtige,
Liebevolle, Gottumfassende, für Todtfeinde flehende, Himmeleindringende Seele mit reinem phy-
siognomischen Sinn -- den vergifteten Becher in der Hand haltend, dir hättest vergegenwärtigen --
dein Gesicht mit diesem hättest vergleichen können -- in dem Momente, da du -- -- wie darf ich
fortschreiben -- -- Unmensch, der mit mir in Einer Stadt wohnet -- -- doch ich schreibe fort,
daß du's lesest -- und lesen wirst du's, das weiß ich -- -- wie -- wie hättest du können,
was du gekonnt hast? ... -- O deine, wie profane Gestalt! deine Miene! ..... daß dein

Spiegel
G g 3

Allgemeine Betrachtungen.
nicht mit jedem Schlage des Herzens an die Graͤnzen der Menſchheit, in alle Punkte des Ange-
ſichtes ergießen? nicht ihre unmißverſtehbare Sprache ſprechen in alle geoͤffnete Ohren derer, die
aus der Wahrheit ſind?



Andacht — Gottesanbetung — Gottes! — Wie darf eine Hand von Erde dieß Wort
ohne Zittern hinſchreiben — wenn Einmal nur aͤchte, reine Gottesempfindung und Erfahrung
ſich in dem Allerheiligſten der Seele zu regen ſchien! — Andacht — du Ehre der Menſchheit — du
Stral aus der hoͤhern Welt — welche Menſchenhand wagt’s — dich zu beſchreiben, und deine
Zuͤge, deine Reinheit, deinen Adel nachzuzeichnen! welcher Unglaube wagt’s, deine unbeſchreibli-
che Sichtbarkeit in dem Angeſichte des Menſchen zu laͤngnen? Und deine Himmelszuͤge — Geduld!
Geduld der Liebe! — verloren im Hinſchauen und Nachſchweben deſſen — der unter den Cent-
nerlaſten ſeiner Leiden ſich aufrichtete, und ſie ſich durch die Bitte ertraͤglich zu machen ſuchte: Va-
ter! vergieb ihnen, denn ſie wiſſen nicht, was ſie thun
— deine Geſtalt und deine Mie-
nen
— welche Engelshand kann ſie mit Erde oder mit der Kohle zeichnen?

Wenn ein Satan in Menſchengeſtalt, der groͤßte, den ich mir denken kann, der unſern
Nachtmahlwein vergiftete, wenn der ſagen darf — (und wie ſchaamlos muß der gegen alle
Menſchenempfindung zu ſprechen gewohnt ſeyn?) wenn der ſagen darf, daß die Erde etwas ſchoͤ-
neres hat — als ein wohlgebildetes menſchliches Weſen voll Weisheit und Guͤte — das die Gott-
heit mit kindlichem Glauben anbetet, und ſich ſeines Daſeyns um ſeiner Unſterblichkeit willen, und
ſeiner Unſterblichkeit um Gottes willen freut — wofern es ihm vergoͤnnt wuͤrde, ein ſolches anzuſe-
hen — — ſo will ich kein Wort mehr von Phyſiognomie, und keines von Religion ſagen —
Ja! — Namenloſer, wenn es moͤglich geweſen waͤre, daß du dir eine einzige redlich andaͤchtige,
Liebevolle, Gottumfaſſende, fuͤr Todtfeinde flehende, Himmeleindringende Seele mit reinem phy-
ſiognomiſchen Sinn — den vergifteten Becher in der Hand haltend, dir haͤtteſt vergegenwaͤrtigen —
dein Geſicht mit dieſem haͤtteſt vergleichen koͤnnen — in dem Momente, da du — — wie darf ich
fortſchreiben — — Unmenſch, der mit mir in Einer Stadt wohnet — — doch ich ſchreibe fort,
daß du’s leſeſt — und leſen wirſt du’s, das weiß ich — — wie — wie haͤtteſt du koͤnnen,
was du gekonnt haſt? ... — O deine, wie profane Geſtalt! deine Miene! ..... daß dein

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[237/0385] Allgemeine Betrachtungen. nicht mit jedem Schlage des Herzens an die Graͤnzen der Menſchheit, in alle Punkte des Ange- ſichtes ergießen? nicht ihre unmißverſtehbare Sprache ſprechen in alle geoͤffnete Ohren derer, die aus der Wahrheit ſind? Andacht — Gottesanbetung — Gottes! — Wie darf eine Hand von Erde dieß Wort ohne Zittern hinſchreiben — wenn Einmal nur aͤchte, reine Gottesempfindung und Erfahrung ſich in dem Allerheiligſten der Seele zu regen ſchien! — Andacht — du Ehre der Menſchheit — du Stral aus der hoͤhern Welt — welche Menſchenhand wagt’s — dich zu beſchreiben, und deine Zuͤge, deine Reinheit, deinen Adel nachzuzeichnen! welcher Unglaube wagt’s, deine unbeſchreibli- che Sichtbarkeit in dem Angeſichte des Menſchen zu laͤngnen? Und deine Himmelszuͤge — Geduld! Geduld der Liebe! — verloren im Hinſchauen und Nachſchweben deſſen — der unter den Cent- nerlaſten ſeiner Leiden ſich aufrichtete, und ſie ſich durch die Bitte ertraͤglich zu machen ſuchte: Va- ter! vergieb ihnen, denn ſie wiſſen nicht, was ſie thun — deine Geſtalt und deine Mie- nen — welche Engelshand kann ſie mit Erde oder mit der Kohle zeichnen? Wenn ein Satan in Menſchengeſtalt, der groͤßte, den ich mir denken kann, der unſern Nachtmahlwein vergiftete, wenn der ſagen darf — (und wie ſchaamlos muß der gegen alle Menſchenempfindung zu ſprechen gewohnt ſeyn?) wenn der ſagen darf, daß die Erde etwas ſchoͤ- neres hat — als ein wohlgebildetes menſchliches Weſen voll Weisheit und Guͤte — das die Gott- heit mit kindlichem Glauben anbetet, und ſich ſeines Daſeyns um ſeiner Unſterblichkeit willen, und ſeiner Unſterblichkeit um Gottes willen freut — wofern es ihm vergoͤnnt wuͤrde, ein ſolches anzuſe- hen — — ſo will ich kein Wort mehr von Phyſiognomie, und keines von Religion ſagen — Ja! — Namenloſer, wenn es moͤglich geweſen waͤre, daß du dir eine einzige redlich andaͤchtige, Liebevolle, Gottumfaſſende, fuͤr Todtfeinde flehende, Himmeleindringende Seele mit reinem phy- ſiognomiſchen Sinn — den vergifteten Becher in der Hand haltend, dir haͤtteſt vergegenwaͤrtigen — dein Geſicht mit dieſem haͤtteſt vergleichen koͤnnen — in dem Momente, da du — — wie darf ich fortſchreiben — — Unmenſch, der mit mir in Einer Stadt wohnet — — doch ich ſchreibe fort, daß du’s leſeſt — und leſen wirſt du’s, das weiß ich — — wie — wie haͤtteſt du koͤnnen, was du gekonnt haſt? ... — O deine, wie profane Geſtalt! deine Miene! ..... daß dein Spiegel G g 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/385>, abgerufen am 22.11.2024.