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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Allgemeine Betrachtungen.
kurze, stumpfe Nase hast, ich eine lange und spitze habe. Jch bin religios so gut als du, und se-
lig in der Religion so gut, als du -- (der Grad kann verschieden seyn) wenn Glaube an die un-
sichtbare
Welt uns leitet, stärkt, reinigt, belebt, erhöhet. Könnten zween Menschen verschiede-
ner seyn, als Petrus und Johannes? wie ungleich scheinen ihre Religionsbegriffe? Sie waren
nicht im Wesen, nur in der Form und im Grade verschieden. Es müssen also verschiedene For-
men der Religion seyn, wie verschiedene Formen der Menschheit -- obgleich dem Wesentlichen
nach alle diese Formen von Einer Art sind. Von derselben Urform der Menschheit -- welch eine
Menge so ungleicher Abdrücke! wie unendlich vermannichfaltigt! So die Religion -- Ein Haupt-
bedürfniß in Millionen Gestalten.

O wenn das bedacht würde! -- bedacht würde, daß es nach dem geheimnißvollen und of-
fenbaren Rathschlusse Gottes so seyn soll! bedacht würde, daß Gott, nicht wir selbst -- uns zu
einer gewissen Hauptform -- zu einer gewissen besondern Religionsempfänglichkeit gebildet hat --
daß der Eine kälter, der andere wärmer, der dritte heiß -- und jeder doch aufrichtig an die Gott-
heit glauben, und nach Eindrücken, jeder nach andern Eindrücken aus der unsichtbaren Welt,
handeln soll; und nicht anders kann. O! daß wir das bedächten! O Menschen -- wollen wir
weiser seyn, als Gott? wollen wir nur Einen Ton in der Musik? nur Einen Stral des Lichts?
nur Eine Farbe? nur einerley Gesichter -- und, welches eben so viel ist, einerley Religionskräfte?
denselben Grad von Empfindsamkeit? Nein! das wollen wir doch nicht! O daß jeder die Gottheit
nach seinem eignen Bedürfnisse suchte, und jeden andern sie auch nach seinem Bedürfnisse suchen
ließe! und, da doch weder aus der unsichtbaren noch sichtbaren Welt keiner alles zusammen nehmen und
genießen kann, daß jeder aus der unsichtbaren Welt nur das nähme, was ihn am schnellsten regt,
am kräftigsten treibt, am meisten reinigt und beseligt. Nicht jedes Erdreich taugt für jegliche Art
des Saamens. An sich kann der Saame gut, an sich das Erdreich gut seyn. Und dennoch ist's
möglich, daß beyde zusammen sich nicht vollkommen schicken wollen. So taugt nicht jede Reli-
gionssorm für jeden.

Noch einmal: Zwinglis Religionssystem, die Form seines Glaubens aus Unsichtbare --
wie viel bedächtlicher und kälter mußte die seyn, als Luthers und Calvins? Melanchtons Re-
ligion mußte mehr Lammes- als Hirtenreligion seyn. Jn einem großen Hause, sagt einer

der
Phys. Fragm. III Versuch. H h

Allgemeine Betrachtungen.
kurze, ſtumpfe Naſe haſt, ich eine lange und ſpitze habe. Jch bin religios ſo gut als du, und ſe-
lig in der Religion ſo gut, als du — (der Grad kann verſchieden ſeyn) wenn Glaube an die un-
ſichtbare
Welt uns leitet, ſtaͤrkt, reinigt, belebt, erhoͤhet. Koͤnnten zween Menſchen verſchiede-
ner ſeyn, als Petrus und Johannes? wie ungleich ſcheinen ihre Religionsbegriffe? Sie waren
nicht im Weſen, nur in der Form und im Grade verſchieden. Es muͤſſen alſo verſchiedene For-
men der Religion ſeyn, wie verſchiedene Formen der Menſchheit — obgleich dem Weſentlichen
nach alle dieſe Formen von Einer Art ſind. Von derſelben Urform der Menſchheit — welch eine
Menge ſo ungleicher Abdruͤcke! wie unendlich vermannichfaltigt! So die Religion — Ein Haupt-
beduͤrfniß in Millionen Geſtalten.

O wenn das bedacht wuͤrde! — bedacht wuͤrde, daß es nach dem geheimnißvollen und of-
fenbaren Rathſchluſſe Gottes ſo ſeyn ſoll! bedacht wuͤrde, daß Gott, nicht wir ſelbſt — uns zu
einer gewiſſen Hauptform — zu einer gewiſſen beſondern Religionsempfaͤnglichkeit gebildet hat —
daß der Eine kaͤlter, der andere waͤrmer, der dritte heiß — und jeder doch aufrichtig an die Gott-
heit glauben, und nach Eindruͤcken, jeder nach andern Eindruͤcken aus der unſichtbaren Welt,
handeln ſoll; und nicht anders kann. O! daß wir das bedaͤchten! O Menſchen — wollen wir
weiſer ſeyn, als Gott? wollen wir nur Einen Ton in der Muſik? nur Einen Stral des Lichts?
nur Eine Farbe? nur einerley Geſichter — und, welches eben ſo viel iſt, einerley Religionskraͤfte?
denſelben Grad von Empfindſamkeit? Nein! das wollen wir doch nicht! O daß jeder die Gottheit
nach ſeinem eignen Beduͤrfniſſe ſuchte, und jeden andern ſie auch nach ſeinem Beduͤrfniſſe ſuchen
ließe! und, da doch weder aus der unſichtbaren noch ſichtbaren Welt keiner alles zuſammen nehmen und
genießen kann, daß jeder aus der unſichtbaren Welt nur das naͤhme, was ihn am ſchnellſten regt,
am kraͤftigſten treibt, am meiſten reinigt und beſeligt. Nicht jedes Erdreich taugt fuͤr jegliche Art
des Saamens. An ſich kann der Saame gut, an ſich das Erdreich gut ſeyn. Und dennoch iſt’s
moͤglich, daß beyde zuſammen ſich nicht vollkommen ſchicken wollen. So taugt nicht jede Reli-
gionsſorm fuͤr jeden.

Noch einmal: Zwinglis Religionsſyſtem, die Form ſeines Glaubens aus Unſichtbare —
wie viel bedaͤchtlicher und kaͤlter mußte die ſeyn, als Luthers und Calvins? Melanchtons Re-
ligion mußte mehr Lammes- als Hirtenreligion ſeyn. Jn einem großen Hauſe, ſagt einer

der
Phyſ. Fragm. III Verſuch. H h
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[241/0389] Allgemeine Betrachtungen. kurze, ſtumpfe Naſe haſt, ich eine lange und ſpitze habe. Jch bin religios ſo gut als du, und ſe- lig in der Religion ſo gut, als du — (der Grad kann verſchieden ſeyn) wenn Glaube an die un- ſichtbare Welt uns leitet, ſtaͤrkt, reinigt, belebt, erhoͤhet. Koͤnnten zween Menſchen verſchiede- ner ſeyn, als Petrus und Johannes? wie ungleich ſcheinen ihre Religionsbegriffe? Sie waren nicht im Weſen, nur in der Form und im Grade verſchieden. Es muͤſſen alſo verſchiedene For- men der Religion ſeyn, wie verſchiedene Formen der Menſchheit — obgleich dem Weſentlichen nach alle dieſe Formen von Einer Art ſind. Von derſelben Urform der Menſchheit — welch eine Menge ſo ungleicher Abdruͤcke! wie unendlich vermannichfaltigt! So die Religion — Ein Haupt- beduͤrfniß in Millionen Geſtalten. O wenn das bedacht wuͤrde! — bedacht wuͤrde, daß es nach dem geheimnißvollen und of- fenbaren Rathſchluſſe Gottes ſo ſeyn ſoll! bedacht wuͤrde, daß Gott, nicht wir ſelbſt — uns zu einer gewiſſen Hauptform — zu einer gewiſſen beſondern Religionsempfaͤnglichkeit gebildet hat — daß der Eine kaͤlter, der andere waͤrmer, der dritte heiß — und jeder doch aufrichtig an die Gott- heit glauben, und nach Eindruͤcken, jeder nach andern Eindruͤcken aus der unſichtbaren Welt, handeln ſoll; und nicht anders kann. O! daß wir das bedaͤchten! O Menſchen — wollen wir weiſer ſeyn, als Gott? wollen wir nur Einen Ton in der Muſik? nur Einen Stral des Lichts? nur Eine Farbe? nur einerley Geſichter — und, welches eben ſo viel iſt, einerley Religionskraͤfte? denſelben Grad von Empfindſamkeit? Nein! das wollen wir doch nicht! O daß jeder die Gottheit nach ſeinem eignen Beduͤrfniſſe ſuchte, und jeden andern ſie auch nach ſeinem Beduͤrfniſſe ſuchen ließe! und, da doch weder aus der unſichtbaren noch ſichtbaren Welt keiner alles zuſammen nehmen und genießen kann, daß jeder aus der unſichtbaren Welt nur das naͤhme, was ihn am ſchnellſten regt, am kraͤftigſten treibt, am meiſten reinigt und beſeligt. Nicht jedes Erdreich taugt fuͤr jegliche Art des Saamens. An ſich kann der Saame gut, an ſich das Erdreich gut ſeyn. Und dennoch iſt’s moͤglich, daß beyde zuſammen ſich nicht vollkommen ſchicken wollen. So taugt nicht jede Reli- gionsſorm fuͤr jeden. Noch einmal: Zwinglis Religionsſyſtem, die Form ſeines Glaubens aus Unſichtbare — wie viel bedaͤchtlicher und kaͤlter mußte die ſeyn, als Luthers und Calvins? Melanchtons Re- ligion mußte mehr Lammes- als Hirtenreligion ſeyn. Jn einem großen Hauſe, ſagt einer der Phyſ. Fragm. III Verſuch. H h

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/389>, abgerufen am 22.11.2024.