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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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II. Fragment.
findet, wenn er der Gesellschaft beschwerlich zu fallen fürchtet? .. Schämen nennt man's -- und
doch hätt' er eigentlich nicht Ursache, sich zu schämen -- weil auch das nicht ohne Gottes Fürsehung
ihm wiederfährt. Nun ist freylich offenbar -- verschuldete Mißbildung macht uns mehr Unbehag-
lichkeit, als unverschuldete -- da inzwischen Schaam überhaupt nichts anders ist, als Furcht
vor Entblößung,
vor Offenbarung seiner Schwachheit und Unvollkommenheit, so wer-
den wir uns schwerlich erwehren können, auch dem ohne seine Schuld mißgebildeten, so wenig
er sich vor Vernünftigen zu schämen Ursache hat, Schaam zuzuschreiben. Nur muß hiebey das
nie vergessen werden: daß die verworfenste Physiognomie offenbare oder geheime Zugaben von
Trefflichkeiten hat, die dem, was man fatal nennt, gewissermaßen das Gegenwicht halten -- oder
doch halten könnten.

Der Recensent fährt fort: "2) Züge des Gesichts sind doch immer nur -- wie bedeutungs-
"voll sie auch seyn mögen, -- Züge des Körpers" -- (wenn sie's nicht der Seele sind; so giebt's
keine Physiognomie!) "Handlungen sind Charaktere, untrügliche Charaktere der Seele. Wer
"durch That zeugt, daß seine Seele schön sey -- sollte der sich schämen, daß sein Gesicht minder
"schimmere!" -- Nein! Nein! mein lieber Bruder -- behalt er nur, der edle Tugendhafte, sein
schlechteres Gesicht bey seiner weit über sein Gesicht emporfliegenden Tugend -- "Ueber sein Gesicht
"emporfliegende Tugend?" -- Auch das nicht! o die That sey nur redlich! Quille nur rein aus
reinem Herzen, gutem Gewissen und ungegleißnetem Glauben -- Auf dem fatalen Gesichte wird
sich eine edle Miene verbreiten -- stille Zeuginn der stillen That; um so viel mehr Ehre fürs Ge-
sicht, weil sie Siegeszeichen der überwundenen Natur ist -- Man sehe den folgenden Abschnitt.

3) fährt der edle Verfasser fort: "Verstellte Bildung zeigt Anlage zu diesem oder jenem La-
ster" -- in dem Sinne, wie der Verfasser von moralisch schlimmen Anlagen redet. -- "Wo aber
"Anlagen in der Seele" -- (mithin auch in der Bildung) "sind, da ist die entgegengesetzte Tugend
"desto schwerer. Der Tugendhafte also, mit dem Gesichte voll unedler Anlagen, trägt an seiner Stir-
"ne" -- (oder, wie ich lieber sagen möchte, in seiner Gesichtsgestalt, und seinen besondern Ge-
sichtszügen) "höhern Charakter der Tugend, als der, dessen schöne Bildung schon Beruf zum Gut-
"seyn -- zu seyn schien." -- Vortrefflich! und Bestätigung unsers so eben geäußerten Ge-
dankens.

5. Zu

II. Fragment.
findet, wenn er der Geſellſchaft beſchwerlich zu fallen fuͤrchtet? .. Schaͤmen nennt man’s — und
doch haͤtt’ er eigentlich nicht Urſache, ſich zu ſchaͤmen — weil auch das nicht ohne Gottes Fuͤrſehung
ihm wiederfaͤhrt. Nun iſt freylich offenbar — verſchuldete Mißbildung macht uns mehr Unbehag-
lichkeit, als unverſchuldete — da inzwiſchen Schaam uͤberhaupt nichts anders iſt, als Furcht
vor Entbloͤßung,
vor Offenbarung ſeiner Schwachheit und Unvollkommenheit, ſo wer-
den wir uns ſchwerlich erwehren koͤnnen, auch dem ohne ſeine Schuld mißgebildeten, ſo wenig
er ſich vor Vernuͤnftigen zu ſchaͤmen Urſache hat, Schaam zuzuſchreiben. Nur muß hiebey das
nie vergeſſen werden: daß die verworfenſte Phyſiognomie offenbare oder geheime Zugaben von
Trefflichkeiten hat, die dem, was man fatal nennt, gewiſſermaßen das Gegenwicht halten — oder
doch halten koͤnnten.

Der Recenſent faͤhrt fort: „2) Zuͤge des Geſichts ſind doch immer nur — wie bedeutungs-
„voll ſie auch ſeyn moͤgen, — Zuͤge des Koͤrpers“ — (wenn ſie’s nicht der Seele ſind; ſo giebt’s
keine Phyſiognomie!) „Handlungen ſind Charaktere, untruͤgliche Charaktere der Seele. Wer
„durch That zeugt, daß ſeine Seele ſchoͤn ſey — ſollte der ſich ſchaͤmen, daß ſein Geſicht minder
„ſchimmere!“ — Nein! Nein! mein lieber Bruder — behalt er nur, der edle Tugendhafte, ſein
ſchlechteres Geſicht bey ſeiner weit uͤber ſein Geſicht emporfliegenden Tugend — „Ueber ſein Geſicht
„emporfliegende Tugend?“ — Auch das nicht! o die That ſey nur redlich! Quille nur rein aus
reinem Herzen, gutem Gewiſſen und ungegleißnetem Glauben — Auf dem fatalen Geſichte wird
ſich eine edle Miene verbreiten — ſtille Zeuginn der ſtillen That; um ſo viel mehr Ehre fuͤrs Ge-
ſicht, weil ſie Siegeszeichen der uͤberwundenen Natur iſt — Man ſehe den folgenden Abſchnitt.

3) faͤhrt der edle Verfaſſer fort: „Verſtellte Bildung zeigt Anlage zu dieſem oder jenem La-
ſter“ — in dem Sinne, wie der Verfaſſer von moraliſch ſchlimmen Anlagen redet. — „Wo aber
„Anlagen in der Seele“ — (mithin auch in der Bildung) „ſind, da iſt die entgegengeſetzte Tugend
„deſto ſchwerer. Der Tugendhafte alſo, mit dem Geſichte voll unedler Anlagen, traͤgt an ſeiner Stir-
„ne“ — (oder, wie ich lieber ſagen moͤchte, in ſeiner Geſichtsgeſtalt, und ſeinen beſondern Ge-
ſichtszuͤgen) „hoͤhern Charakter der Tugend, als der, deſſen ſchoͤne Bildung ſchon Beruf zum Gut-
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dankens.

5. Zu
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[24/0040] II. Fragment. findet, wenn er der Geſellſchaft beſchwerlich zu fallen fuͤrchtet? .. Schaͤmen nennt man’s — und doch haͤtt’ er eigentlich nicht Urſache, ſich zu ſchaͤmen — weil auch das nicht ohne Gottes Fuͤrſehung ihm wiederfaͤhrt. Nun iſt freylich offenbar — verſchuldete Mißbildung macht uns mehr Unbehag- lichkeit, als unverſchuldete — da inzwiſchen Schaam uͤberhaupt nichts anders iſt, als Furcht vor Entbloͤßung, vor Offenbarung ſeiner Schwachheit und Unvollkommenheit, ſo wer- den wir uns ſchwerlich erwehren koͤnnen, auch dem ohne ſeine Schuld mißgebildeten, ſo wenig er ſich vor Vernuͤnftigen zu ſchaͤmen Urſache hat, Schaam zuzuſchreiben. Nur muß hiebey das nie vergeſſen werden: daß die verworfenſte Phyſiognomie offenbare oder geheime Zugaben von Trefflichkeiten hat, die dem, was man fatal nennt, gewiſſermaßen das Gegenwicht halten — oder doch halten koͤnnten. Der Recenſent faͤhrt fort: „2) Zuͤge des Geſichts ſind doch immer nur — wie bedeutungs- „voll ſie auch ſeyn moͤgen, — Zuͤge des Koͤrpers“ — (wenn ſie’s nicht der Seele ſind; ſo giebt’s keine Phyſiognomie!) „Handlungen ſind Charaktere, untruͤgliche Charaktere der Seele. Wer „durch That zeugt, daß ſeine Seele ſchoͤn ſey — ſollte der ſich ſchaͤmen, daß ſein Geſicht minder „ſchimmere!“ — Nein! Nein! mein lieber Bruder — behalt er nur, der edle Tugendhafte, ſein ſchlechteres Geſicht bey ſeiner weit uͤber ſein Geſicht emporfliegenden Tugend — „Ueber ſein Geſicht „emporfliegende Tugend?“ — Auch das nicht! o die That ſey nur redlich! Quille nur rein aus reinem Herzen, gutem Gewiſſen und ungegleißnetem Glauben — Auf dem fatalen Geſichte wird ſich eine edle Miene verbreiten — ſtille Zeuginn der ſtillen That; um ſo viel mehr Ehre fuͤrs Ge- ſicht, weil ſie Siegeszeichen der uͤberwundenen Natur iſt — Man ſehe den folgenden Abſchnitt. 3) faͤhrt der edle Verfaſſer fort: „Verſtellte Bildung zeigt Anlage zu dieſem oder jenem La- ſter“ — in dem Sinne, wie der Verfaſſer von moraliſch ſchlimmen Anlagen redet. — „Wo aber „Anlagen in der Seele“ — (mithin auch in der Bildung) „ſind, da iſt die entgegengeſetzte Tugend „deſto ſchwerer. Der Tugendhafte alſo, mit dem Geſichte voll unedler Anlagen, traͤgt an ſeiner Stir- „ne“ — (oder, wie ich lieber ſagen moͤchte, in ſeiner Geſichtsgeſtalt, und ſeinen beſondern Ge- ſichtszuͤgen) „hoͤhern Charakter der Tugend, als der, deſſen ſchoͤne Bildung ſchon Beruf zum Gut- „ſeyn — zu ſeyn ſchien.“ — Vortrefflich! und Beſtaͤtigung unſers ſo eben geaͤußerten Ge- dankens. 5. Zu

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/40>, abgerufen am 21.11.2024.