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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Religiose.
Kraft wird er würken! aufklären, erwärmen, zur That entflammen, zum Dulden, Ausharren,
Schweigen! wie selber -- itzt zermalmen, zertreten, was sich wider seinen Christus erhebt --
dann -- in sich verschließen sich selbst, seinen Christus mit seinem Reiche -- und selig seyn und
selig machen, die ihn hören und lesen. Aber wenn jemand, wird er durch viele Trübsalen ins Reich
Gottes eingehen.

A.

Nicht, bey weitem nicht das Angezogne der obern Physiognomie -- alles matter und
lockerer, phlegmatischer. Jn der Stirne ist viel Reichthum und Helle. Solche Stirne hat
kein schwacher Kopf. Jm Auge ist nicht das Durchdringende, Ergreifende, wie in H. Mehr
Poesie und Geschmack; aber weniger Tiefblick und Gefühlquell scheint's anzuzeigen. Die Nase
ist, besonders obenher, vielbedeutend, und ersetzt durch die Entferntheit des Umrisses vom Auge
das Schüchterne, Schläfrige des Auges, in dessen Form und Blick sonst erstaunlich viel aus
vielen Fähigkeiten zusammengesetzte Physiognomie ist. Jm Munde viel Güte, Sanftheit und
Geduld.

Jm Kinne nicht die durchdringende Thatkraft, wie in H. Zeichners Schuld ist, daß
das obere Gesicht mehr Einen bestimmten Moment der Thätigkeit darstellt, als das untere --
wo offenbar im Munde mehr Behaglichkeit ist, als im hinstaunenden Blicke.

Und nun das Religiose in diesem Kopfe -- sollte das nicht auffallend seyn? nicht auffal-
lend der Unterschied der Religiosität dieser beyden Köpfe? Wird H nicht tiefer in die unsichtbare
Welt eindringen, als A? nicht weniger leidend A als H? Was A heiter sieht, sieht H bli-
tzend.
A leidet und betet an. H leidet und kämpft sich heißflehend oder tiefschweigend in tie-
fere Leiden hinein, oder in höhere Freyheit hinauf. A wird die göttliche Wahrheit mit stiller
Ruhe lehren -- H wird sie mit gewaltiger voller Hand auswerfen.

Und
Phys. Fragm. III Versuch. K k

Religioſe.
Kraft wird er wuͤrken! aufklaͤren, erwaͤrmen, zur That entflammen, zum Dulden, Ausharren,
Schweigen! wie ſelber — itzt zermalmen, zertreten, was ſich wider ſeinen Chriſtus erhebt —
dann — in ſich verſchließen ſich ſelbſt, ſeinen Chriſtus mit ſeinem Reiche — und ſelig ſeyn und
ſelig machen, die ihn hoͤren und leſen. Aber wenn jemand, wird er durch viele Truͤbſalen ins Reich
Gottes eingehen.

A.

Nicht, bey weitem nicht das Angezogne der obern Phyſiognomie — alles matter und
lockerer, phlegmatiſcher. Jn der Stirne iſt viel Reichthum und Helle. Solche Stirne hat
kein ſchwacher Kopf. Jm Auge iſt nicht das Durchdringende, Ergreifende, wie in H. Mehr
Poeſie und Geſchmack; aber weniger Tiefblick und Gefuͤhlquell ſcheint’s anzuzeigen. Die Naſe
iſt, beſonders obenher, vielbedeutend, und erſetzt durch die Entferntheit des Umriſſes vom Auge
das Schuͤchterne, Schlaͤfrige des Auges, in deſſen Form und Blick ſonſt erſtaunlich viel aus
vielen Faͤhigkeiten zuſammengeſetzte Phyſiognomie iſt. Jm Munde viel Guͤte, Sanftheit und
Geduld.

Jm Kinne nicht die durchdringende Thatkraft, wie in H. Zeichners Schuld iſt, daß
das obere Geſicht mehr Einen beſtimmten Moment der Thaͤtigkeit darſtellt, als das untere —
wo offenbar im Munde mehr Behaglichkeit iſt, als im hinſtaunenden Blicke.

Und nun das Religioſe in dieſem Kopfe — ſollte das nicht auffallend ſeyn? nicht auffal-
lend der Unterſchied der Religioſitaͤt dieſer beyden Koͤpfe? Wird H nicht tiefer in die unſichtbare
Welt eindringen, als A? nicht weniger leidend A als H? Was A heiter ſieht, ſieht H bli-
tzend.
A leidet und betet an. H leidet und kaͤmpft ſich heißflehend oder tiefſchweigend in tie-
fere Leiden hinein, oder in hoͤhere Freyheit hinauf. A wird die goͤttliche Wahrheit mit ſtiller
Ruhe lehren — H wird ſie mit gewaltiger voller Hand auswerfen.

Und
Phyſ. Fragm. III Verſuch. K k
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[257/0415] Religioſe. Kraft wird er wuͤrken! aufklaͤren, erwaͤrmen, zur That entflammen, zum Dulden, Ausharren, Schweigen! wie ſelber — itzt zermalmen, zertreten, was ſich wider ſeinen Chriſtus erhebt — dann — in ſich verſchließen ſich ſelbſt, ſeinen Chriſtus mit ſeinem Reiche — und ſelig ſeyn und ſelig machen, die ihn hoͤren und leſen. Aber wenn jemand, wird er durch viele Truͤbſalen ins Reich Gottes eingehen. A. Nicht, bey weitem nicht das Angezogne der obern Phyſiognomie — alles matter und lockerer, phlegmatiſcher. Jn der Stirne iſt viel Reichthum und Helle. Solche Stirne hat kein ſchwacher Kopf. Jm Auge iſt nicht das Durchdringende, Ergreifende, wie in H. Mehr Poeſie und Geſchmack; aber weniger Tiefblick und Gefuͤhlquell ſcheint’s anzuzeigen. Die Naſe iſt, beſonders obenher, vielbedeutend, und erſetzt durch die Entferntheit des Umriſſes vom Auge das Schuͤchterne, Schlaͤfrige des Auges, in deſſen Form und Blick ſonſt erſtaunlich viel aus vielen Faͤhigkeiten zuſammengeſetzte Phyſiognomie iſt. Jm Munde viel Guͤte, Sanftheit und Geduld. Jm Kinne nicht die durchdringende Thatkraft, wie in H. Zeichners Schuld iſt, daß das obere Geſicht mehr Einen beſtimmten Moment der Thaͤtigkeit darſtellt, als das untere — wo offenbar im Munde mehr Behaglichkeit iſt, als im hinſtaunenden Blicke. Und nun das Religioſe in dieſem Kopfe — ſollte das nicht auffallend ſeyn? nicht auffal- lend der Unterſchied der Religioſitaͤt dieſer beyden Koͤpfe? Wird H nicht tiefer in die unſichtbare Welt eindringen, als A? nicht weniger leidend A als H? Was A heiter ſieht, ſieht H bli- tzend. A leidet und betet an. H leidet und kaͤmpft ſich heißflehend oder tiefſchweigend in tie- fere Leiden hinein, oder in hoͤhere Freyheit hinauf. A wird die goͤttliche Wahrheit mit ſtiller Ruhe lehren — H wird ſie mit gewaltiger voller Hand auswerfen. Und Phyſ. Fragm. III Verſuch. K k

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/415>, abgerufen am 24.11.2024.