Wenn dein Aug einfältig ist, so wird dein ganzer Leib heiter seyn, gleich als wenn ein Licht dich mit seinem Glanz umleuchtete; und was ist physiognomischer Sinn anders, als diese Einfalt des Auges? Nicht die Seele ohne den Leib, aber in dem Leibe die Seele zu se- hen; und je mehr du Seele siehest, wird dir nicht allemal um so viel heiliger der Körper, ihr Ge- wand, seyn? Was? Mensch! mit diesem Sinne? diesem Gefühle, das dir Gott gab -- du -- ent- heiligen solltest du dieß Heilige Gottes? Entheiligen -- das heißt: erniedrigen? verunstalten? kränken? unempfindlich machen? Wem eine gute oder große Physiognomie nicht Ehrfurcht und eine Liebe, die nicht beleidigen kann, einflößt, der soll von physiognomischem Sinne sprechen? Der physiognomische Sinn ist Offenbarung des Geistes. Nichts erhält die Keuschheit so rein; nichts verwahret so vor viehischer Lüsternheit -- nichts erhöhet deine Seele mehr, und die Seele, die's dir ansieht, daß sie dir heilig ist. Anblick der Kraft erweckt Ehrfurcht. Gefühl der Liebe Liebe -- aber Liebe, die nicht das ihrige sucht. Liebe, die rein ist, wie die Liebe der Engel, die sich im Himmel umarmen -- -- Fragment eines Fragmentes,
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Zweytes
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Allgemeine Betrachtungen.
Wenn dein Aug einfaͤltig iſt, ſo wird dein ganzer Leib heiter ſeyn, gleich als wenn ein Licht dich mit ſeinem Glanz umleuchtete; und was iſt phyſiognomiſcher Sinn anders, als dieſe Einfalt des Auges? Nicht die Seele ohne den Leib, aber in dem Leibe die Seele zu ſe- hen; und je mehr du Seele ſieheſt, wird dir nicht allemal um ſo viel heiliger der Koͤrper, ihr Ge- wand, ſeyn? Was? Menſch! mit dieſem Sinne? dieſem Gefuͤhle, das dir Gott gab — du — ent- heiligen ſollteſt du dieß Heilige Gottes? Entheiligen — das heißt: erniedrigen? verunſtalten? kraͤnken? unempfindlich machen? Wem eine gute oder große Phyſiognomie nicht Ehrfurcht und eine Liebe, die nicht beleidigen kann, einfloͤßt, der ſoll von phyſiognomiſchem Sinne ſprechen? Der phyſiognomiſche Sinn iſt Offenbarung des Geiſtes. Nichts erhaͤlt die Keuſchheit ſo rein; nichts verwahret ſo vor viehiſcher Luͤſternheit — nichts erhoͤhet deine Seele mehr, und die Seele, die’s dir anſieht, daß ſie dir heilig iſt. Anblick der Kraft erweckt Ehrfurcht. Gefuͤhl der Liebe Liebe — aber Liebe, die nicht das ihrige ſucht. Liebe, die rein iſt, wie die Liebe der Engel, die ſich im Himmel umarmen — — Fragment eines Fragmentes,
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Allgemeine Betrachtungen.
Wenn dein Aug einfaͤltig iſt, ſo wird dein ganzer Leib heiter ſeyn, gleich als wenn
ein Licht dich mit ſeinem Glanz umleuchtete; und was iſt phyſiognomiſcher Sinn anders,
als dieſe Einfalt des Auges? Nicht die Seele ohne den Leib, aber in dem Leibe die Seele zu ſe-
hen; und je mehr du Seele ſieheſt, wird dir nicht allemal um ſo viel heiliger der Koͤrper, ihr Ge-
wand, ſeyn? Was? Menſch! mit dieſem Sinne? dieſem Gefuͤhle, das dir Gott gab — du — ent-
heiligen ſollteſt du dieß Heilige Gottes? Entheiligen — das heißt: erniedrigen? verunſtalten?
kraͤnken? unempfindlich machen? Wem eine gute oder große Phyſiognomie nicht Ehrfurcht
und eine Liebe, die nicht beleidigen kann, einfloͤßt, der ſoll von phyſiognomiſchem Sinne ſprechen?
Der phyſiognomiſche Sinn iſt Offenbarung des Geiſtes. Nichts erhaͤlt die Keuſchheit ſo
rein; nichts verwahret ſo vor viehiſcher Luͤſternheit — nichts erhoͤhet deine Seele mehr, und die
Seele, die’s dir anſieht, daß ſie dir heilig iſt. Anblick der Kraft erweckt Ehrfurcht. Gefuͤhl der Liebe
Liebe — aber Liebe, die nicht das ihrige ſucht. Liebe, die rein iſt, wie die Liebe der Engel, die ſich
im Himmel umarmen — — Fragment eines Fragmentes,
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/467>, abgerufen am 22.11.2024.
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