4. Gewiß eins von den Gesichtern, die man nie kenntlich und nie unkenntlich zeichnen noch charakterisiren kann; immer muß (wie gesagt: ich kenne das Urbild nicht) immer muß sehr viel in diesem Gesichte nicht übersehen, und sehr viel, das gesehen wird, nicht nachgeahmt, nicht ausgedrückt werden können. Alle -- bloß natürliche Physiognomisten werden 3. dem 4, und alle studierende Physiognomen 4. dem 3. vorziehen. Und wie? wenn in seinem Gesichtspunkte jeder richtig ur- theilte! Alle beyde aber werden gewiß sagen: 4. ist kein gemeines Gesicht. 3. scheint mehr simple Güte zu haben. 4. mehr geistreiche, ins Große gehende Güte. Nach meinem Gefühl und zum Theil nach deutlichen Beobachtungen, ist unaussprechlich viel Seele in Auge, Nase und Mund. Es ist ein wahrhaft, ein kaum verkennbar großes Gesicht. Wo diese Größe in der Zeichnung ist, da muß Erhabenheit in der Natur seyn. Denn offenbar ist Mund, Kinn und Ohr, so viel auch noch Charakter durchdämmert -- theils verdorben, theils unbestimmt. Der Umriß der Stirne nicht rein genug. Jst in der Mitte keine kleine Vertiefung, wie's seyn kann -- so gewönne die Stirn an Ausdruck von Größe ungemein viel.
Sieben-
XI. Abſchnitt. XVI. Fragment.
4. Gewiß eins von den Geſichtern, die man nie kenntlich und nie unkenntlich zeichnen noch charakteriſiren kann; immer muß (wie geſagt: ich kenne das Urbild nicht) immer muß ſehr viel in dieſem Geſichte nicht uͤberſehen, und ſehr viel, das geſehen wird, nicht nachgeahmt, nicht ausgedruͤckt werden koͤnnen. Alle — bloß natuͤrliche Phyſiognomiſten werden 3. dem 4, und alle ſtudierende Phyſiognomen 4. dem 3. vorziehen. Und wie? wenn in ſeinem Geſichtspunkte jeder richtig ur- theilte! Alle beyde aber werden gewiß ſagen: 4. iſt kein gemeines Geſicht. 3. ſcheint mehr ſimple Guͤte zu haben. 4. mehr geiſtreiche, ins Große gehende Guͤte. Nach meinem Gefuͤhl und zum Theil nach deutlichen Beobachtungen, iſt unausſprechlich viel Seele in Auge, Naſe und Mund. Es iſt ein wahrhaft, ein kaum verkennbar großes Geſicht. Wo dieſe Groͤße in der Zeichnung iſt, da muß Erhabenheit in der Natur ſeyn. Denn offenbar iſt Mund, Kinn und Ohr, ſo viel auch noch Charakter durchdaͤmmert — theils verdorben, theils unbeſtimmt. Der Umriß der Stirne nicht rein genug. Jſt in der Mitte keine kleine Vertiefung, wie’s ſeyn kann — ſo gewoͤnne die Stirn an Ausdruck von Groͤße ungemein viel.
Sieben-
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XI. Abſchnitt. XVI. Fragment.
4. Gewiß eins von den Geſichtern, die man nie kenntlich und nie unkenntlich zeichnen noch
charakteriſiren kann; immer muß (wie geſagt: ich kenne das Urbild nicht) immer muß ſehr viel in
dieſem Geſichte nicht uͤberſehen, und ſehr viel, das geſehen wird, nicht nachgeahmt, nicht ausgedruͤckt
werden koͤnnen. Alle — bloß natuͤrliche Phyſiognomiſten werden 3. dem 4, und alle ſtudierende
Phyſiognomen 4. dem 3. vorziehen. Und wie? wenn in ſeinem Geſichtspunkte jeder richtig ur-
theilte! Alle beyde aber werden gewiß ſagen: 4. iſt kein gemeines Geſicht. 3. ſcheint mehr ſimple
Guͤte zu haben. 4. mehr geiſtreiche, ins Große gehende Guͤte. Nach meinem Gefuͤhl und zum
Theil nach deutlichen Beobachtungen, iſt unausſprechlich viel Seele in Auge, Naſe und Mund.
Es iſt ein wahrhaft, ein kaum verkennbar großes Geſicht. Wo dieſe Groͤße in der Zeichnung
iſt, da muß Erhabenheit in der Natur ſeyn. Denn offenbar iſt Mund, Kinn und Ohr, ſo viel
auch noch Charakter durchdaͤmmert — theils verdorben, theils unbeſtimmt. Der Umriß der
Stirne nicht rein genug. Jſt in der Mitte keine kleine Vertiefung, wie’s ſeyn kann — ſo gewoͤnne
die Stirn an Ausdruck von Groͤße ungemein viel.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/516>, abgerufen am 22.11.2024.
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