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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Frauenspersonen.
4. So stolz, und mit so beschloßnem Munde betet nur die theatralische Andacht! Uebri-
gens freylich nichts weniger, als ein Alltagsgesicht.
5. Gewiß, in der Natur wenigstens, kein gemeines Gesicht. Der Radierer scheint nicht
verschönert, eher -- wie's beynah anders nicht möglich ist, vergröbert zu haben -- Zu dem tref-
lichen Auge vermiß ich eine harmonischere Augenbraune -- Der ganze äußere Umriß scheint viel
Klugheit und Geschmack zu versprechen.
6. Eine brafe, wackere Thatfrau -- Entschlossen und fruchtbar -- aller ihrer Schwer-
leibigkeit ungeachtet, wie wir zu Zürich sagen würden, eine Hauptfrau, anstellig und angrif-
fig!
-- Jm Vorbeygehn zu sagen -- dürft' ich nicht diese drey gutschweizerischen Wörter zur
Naturalisirung empfehlen, liebe, mannhafte, Deutsche!
7. Noch einmal so gut wäre dieß gute, offne, edle, denkende, freye Gesicht, wenn der
Mund, besonders die Unterlippe, besser gezeichnet, und der Knopf der Nase weniger abgestümpft
wäre. Stirn und Aug' und Kinn sind vortrefflich.
Des III. Ban-
des XCV.
Tafel.
8. Hat was großes. Jst schwer zu bestimmen: wo? Vermuthlich in der
männlichen Augenbraune -- dem Blick und dem obern Theile der Nase. Doch ist die
Stirne weder scharf noch gewölbt genug, um mit der Augenbraune harmonisch zu seyn'
Zwischen Nase und Mund Mißzeichnung, die verkleinlichet. Etwas, vermuthlich vom Zeichner
hineingemanierter Berlinismus! Aber dieß Gesicht -- auch in der gewiß unvollkommnen Copie --
hat viel zu geben, und giebt in großen Maßen -- überschaut, und durchschaut.
9. Aus der Nase zu schließen -- wo nicht eine große, doch gewiß, treffliche Dame;
weniger Prätension als 8. -- (wir reden vom Bilde!) Erstaunlich viel Bonhomie -- im edeln,
nicht schwachen Munde. Stirn und Auge ein herrlich Mittel zwischen bloß gebendem, und bloß
empfangendem Genie.
10. Ein Gesicht, das, ohn' alle Prätension auf Schönheit, Achtung und Liebe fordert.
Es enthält viel Wahrheit und Natur. Es hat mehr Bescheidenheit, als Eitelkeit, und seine Ei-
telkeit scheint von einer aufrichtigen und liebenswürdigen Art zu seyn. Daß die Dame zart und
schwäch-
Phys. Fragm. III Versuch. T t
Frauensperſonen.
4. So ſtolz, und mit ſo beſchloßnem Munde betet nur die theatraliſche Andacht! Uebri-
gens freylich nichts weniger, als ein Alltagsgeſicht.
5. Gewiß, in der Natur wenigſtens, kein gemeines Geſicht. Der Radierer ſcheint nicht
verſchoͤnert, eher — wie’s beynah anders nicht moͤglich iſt, vergroͤbert zu haben — Zu dem tref-
lichen Auge vermiß ich eine harmoniſchere Augenbraune — Der ganze aͤußere Umriß ſcheint viel
Klugheit und Geſchmack zu verſprechen.
6. Eine brafe, wackere Thatfrau — Entſchloſſen und fruchtbar — aller ihrer Schwer-
leibigkeit ungeachtet, wie wir zu Zuͤrich ſagen wuͤrden, eine Hauptfrau, anſtellig und angrif-
fig!
— Jm Vorbeygehn zu ſagen — duͤrft’ ich nicht dieſe drey gutſchweizeriſchen Woͤrter zur
Naturaliſirung empfehlen, liebe, mannhafte, Deutſche!
7. Noch einmal ſo gut waͤre dieß gute, offne, edle, denkende, freye Geſicht, wenn der
Mund, beſonders die Unterlippe, beſſer gezeichnet, und der Knopf der Naſe weniger abgeſtuͤmpft
waͤre. Stirn und Aug’ und Kinn ſind vortrefflich.
Des III. Ban-
des XCV.
Tafel.
8. Hat was großes. Jſt ſchwer zu beſtimmen: wo? Vermuthlich in der
maͤnnlichen Augenbraune — dem Blick und dem obern Theile der Naſe. Doch iſt die
Stirne weder ſcharf noch gewoͤlbt genug, um mit der Augenbraune harmoniſch zu ſeyn’
Zwiſchen Naſe und Mund Mißzeichnung, die verkleinlichet. Etwas, vermuthlich vom Zeichner
hineingemanierter Berlinismus! Aber dieß Geſicht — auch in der gewiß unvollkommnen Copie —
hat viel zu geben, und giebt in großen Maßen — uͤberſchaut, und durchſchaut.
9. Aus der Naſe zu ſchließen — wo nicht eine große, doch gewiß, treffliche Dame;
weniger Praͤtenſion als 8. — (wir reden vom Bilde!) Erſtaunlich viel Bonhomie — im edeln,
nicht ſchwachen Munde. Stirn und Auge ein herrlich Mittel zwiſchen bloß gebendem, und bloß
empfangendem Genie.
10. Ein Geſicht, das, ohn’ alle Praͤtenſion auf Schoͤnheit, Achtung und Liebe fordert.
Es enthaͤlt viel Wahrheit und Natur. Es hat mehr Beſcheidenheit, als Eitelkeit, und ſeine Ei-
telkeit ſcheint von einer aufrichtigen und liebenswuͤrdigen Art zu ſeyn. Daß die Dame zart und
ſchwaͤch-
Phyſ. Fragm. III Verſuch. T t
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[329/0535] Frauensperſonen. 4. So ſtolz, und mit ſo beſchloßnem Munde betet nur die theatraliſche Andacht! Uebri- gens freylich nichts weniger, als ein Alltagsgeſicht. 5. Gewiß, in der Natur wenigſtens, kein gemeines Geſicht. Der Radierer ſcheint nicht verſchoͤnert, eher — wie’s beynah anders nicht moͤglich iſt, vergroͤbert zu haben — Zu dem tref- lichen Auge vermiß ich eine harmoniſchere Augenbraune — Der ganze aͤußere Umriß ſcheint viel Klugheit und Geſchmack zu verſprechen. 6. Eine brafe, wackere Thatfrau — Entſchloſſen und fruchtbar — aller ihrer Schwer- leibigkeit ungeachtet, wie wir zu Zuͤrich ſagen wuͤrden, eine Hauptfrau, anſtellig und angrif- fig! — Jm Vorbeygehn zu ſagen — duͤrft’ ich nicht dieſe drey gutſchweizeriſchen Woͤrter zur Naturaliſirung empfehlen, liebe, mannhafte, Deutſche! 7. Noch einmal ſo gut waͤre dieß gute, offne, edle, denkende, freye Geſicht, wenn der Mund, beſonders die Unterlippe, beſſer gezeichnet, und der Knopf der Naſe weniger abgeſtuͤmpft waͤre. Stirn und Aug’ und Kinn ſind vortrefflich. 8. Hat was großes. Jſt ſchwer zu beſtimmen: wo? Vermuthlich in der maͤnnlichen Augenbraune — dem Blick und dem obern Theile der Naſe. Doch iſt die Stirne weder ſcharf noch gewoͤlbt genug, um mit der Augenbraune harmoniſch zu ſeyn’ Zwiſchen Naſe und Mund Mißzeichnung, die verkleinlichet. Etwas, vermuthlich vom Zeichner hineingemanierter Berlinismus! Aber dieß Geſicht — auch in der gewiß unvollkommnen Copie — hat viel zu geben, und giebt in großen Maßen — uͤberſchaut, und durchſchaut. 9. Aus der Naſe zu ſchließen — wo nicht eine große, doch gewiß, treffliche Dame; weniger Praͤtenſion als 8. — (wir reden vom Bilde!) Erſtaunlich viel Bonhomie — im edeln, nicht ſchwachen Munde. Stirn und Auge ein herrlich Mittel zwiſchen bloß gebendem, und bloß empfangendem Genie. 10. Ein Geſicht, das, ohn’ alle Praͤtenſion auf Schoͤnheit, Achtung und Liebe fordert. Es enthaͤlt viel Wahrheit und Natur. Es hat mehr Beſcheidenheit, als Eitelkeit, und ſeine Ei- telkeit ſcheint von einer aufrichtigen und liebenswuͤrdigen Art zu ſeyn. Daß die Dame zart und ſchwaͤch- Phyſ. Fragm. III Verſuch. T t

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/535>, abgerufen am 22.11.2024.