Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.XII. Abschnitt. V. Fragment. güte -- unbeschreibliche Reizbarkeit mit ausharrender Geduld. Reinliche Genauheit, und keineSpur von Pedanterey -- unermüdliche Treue, und für den, der ihn kennt, beleidigende Kalt- heit -- die im Augenblicke wieder Eifer und Liebeshitze ist. Den Einen Augenblick -- keine Herr- schaft über sich selbst -- und dann wieder alle mögliche Herrschaft. Ein Arzt mit königlicher Macht. Jtzt zerschmilzt sein Aug in den sanftesten, menschenfreundlichsten Thränen -- dann durchschneidet es euch wieder mit dem Blicke des Blitzes. Ein Herzregierender Mann -- den jedoch ein Kind lei- ten kann, wenn es ihn kennt -- gebildet, keinem Menschen Langeweile zu machen, aber oft Lan- geweile mit Todesangst zu dulden. -- Jch hoffe nicht, daß man mir Schuld geben werde, "daß "ich einem Freunde Complimente machen wolle." Es ist Wort für Wort wahr. Und ich denke, es ist des redlichen Physiognomisten Pflicht, diese Wahrheit, bey Vorlegung eines so merkwürdi- gen Bildes, nicht zu verschweigen; und ich meyne -- was ich von ihm sage, hat nicht die Miene der Schmeicheley -- Sonst wäre noch viel zu sagen, das auch wahr wäre, und so vortrefflich, als wahr. -- Bloß Zutrauen in die Geistesstärke, und Gehorsam gegen die Bitte des Mannes voll mißkannter -- durch seine eigne Schuld mißkannter Bescheidenheit -- ist's, daß ich nichts mehr sage. Nur noch dieß: Jn dem Bilde, das wir vor uns haben, ist das Feste, Starke, Stolze, Noch bleibe auch die Manier, wie dieß Porträt bearbeitet ist, nicht unbemerkt. Wider Nachste-
XII. Abſchnitt. V. Fragment. guͤte — unbeſchreibliche Reizbarkeit mit ausharrender Geduld. Reinliche Genauheit, und keineSpur von Pedanterey — unermuͤdliche Treue, und fuͤr den, der ihn kennt, beleidigende Kalt- heit — die im Augenblicke wieder Eifer und Liebeshitze iſt. Den Einen Augenblick — keine Herr- ſchaft uͤber ſich ſelbſt — und dann wieder alle moͤgliche Herrſchaft. Ein Arzt mit koͤniglicher Macht. Jtzt zerſchmilzt ſein Aug in den ſanfteſten, menſchenfreundlichſten Thraͤnen — dann durchſchneidet es euch wieder mit dem Blicke des Blitzes. Ein Herzregierender Mann — den jedoch ein Kind lei- ten kann, wenn es ihn kennt — gebildet, keinem Menſchen Langeweile zu machen, aber oft Lan- geweile mit Todesangſt zu dulden. — Jch hoffe nicht, daß man mir Schuld geben werde, „daß „ich einem Freunde Complimente machen wolle.“ Es iſt Wort fuͤr Wort wahr. Und ich denke, es iſt des redlichen Phyſiognomiſten Pflicht, dieſe Wahrheit, bey Vorlegung eines ſo merkwuͤrdi- gen Bildes, nicht zu verſchweigen; und ich meyne — was ich von ihm ſage, hat nicht die Miene der Schmeicheley — Sonſt waͤre noch viel zu ſagen, das auch wahr waͤre, und ſo vortrefflich, als wahr. — Bloß Zutrauen in die Geiſtesſtaͤrke, und Gehorſam gegen die Bitte des Mannes voll mißkannter — durch ſeine eigne Schuld mißkannter Beſcheidenheit — iſt’s, daß ich nichts mehr ſage. Nur noch dieß: Jn dem Bilde, das wir vor uns haben, iſt das Feſte, Starke, Stolze, Noch bleibe auch die Manier, wie dieß Portraͤt bearbeitet iſt, nicht unbemerkt. Wider Nachſte-
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0554" n="340"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XII.</hi> Abſchnitt. <hi rendition="#aq">V.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/> guͤte — unbeſchreibliche Reizbarkeit mit ausharrender Geduld. Reinliche Genauheit, und keine<lb/> Spur von Pedanterey — unermuͤdliche Treue, und fuͤr den, der ihn kennt, beleidigende Kalt-<lb/> heit — die im Augenblicke wieder Eifer und Liebeshitze iſt. Den Einen Augenblick — keine Herr-<lb/> ſchaft uͤber ſich ſelbſt — und dann wieder alle moͤgliche Herrſchaft. Ein Arzt mit koͤniglicher Macht.<lb/> Jtzt zerſchmilzt ſein Aug in den ſanfteſten, menſchenfreundlichſten Thraͤnen — dann durchſchneidet<lb/> es euch wieder mit dem Blicke des Blitzes. Ein Herzregierender Mann — den jedoch ein Kind lei-<lb/> ten kann, wenn es ihn kennt — gebildet, keinem Menſchen Langeweile zu machen, aber oft Lan-<lb/> geweile mit Todesangſt zu dulden. — Jch hoffe nicht, daß man mir Schuld geben werde, „daß<lb/> „ich einem Freunde Complimente machen wolle.“ Es iſt Wort fuͤr Wort wahr. Und ich denke,<lb/> es iſt des redlichen Phyſiognomiſten Pflicht, dieſe Wahrheit, bey Vorlegung eines ſo merkwuͤrdi-<lb/> gen Bildes, nicht zu verſchweigen; und ich meyne — was ich von ihm ſage, hat nicht die Miene<lb/> der Schmeicheley — Sonſt waͤre noch viel zu ſagen, das auch wahr waͤre, und ſo vortrefflich, als<lb/> wahr. — Bloß Zutrauen in die Geiſtesſtaͤrke, und Gehorſam gegen die Bitte des Mannes<lb/> voll mißkannter — durch ſeine eigne Schuld mißkannter Beſcheidenheit — iſt’s, daß ich nichts<lb/> mehr ſage.</p><lb/> <p>Nur noch dieß: Jn dem Bilde, das wir vor uns haben, iſt das Feſte, Starke, Stolze,<lb/> Zermalmende des Charakters auffallender, als das Zarte, Empfindſame, Feine — vornehmlich<lb/> weil der Mund und die Gegend um den Mund am meiſten verfehlt iſt.</p><lb/> <p>Noch bleibe auch die Manier, wie dieß Portraͤt bearbeitet iſt, nicht unbemerkt. Wider<lb/> manche Regeln, wenn man will — und dennoch phyſiognomiſch vortrefflich! So ſcharf ſich vom<lb/> Grunde heraushebend! Der aͤußerſte Umriß, ohne eigentlich Umriß zu ſeyn, ſo rein und beſtimmt.<lb/> Alles ſo in verhaͤltnißmaͤßiger Weisheit und Kraft gearbeitet; daß ſich alles nach der Wuͤrde ſeines<lb/> Charakters zeigt, uͤber alles das vielbedeutende Auge ſich hervordraͤngt. Ohr, Hals, Backen und<lb/> Kinn .. in welcher Harmonie der Schattirung! — Man denke ſich nun die rechte Schulter zu-<lb/> ruͤck, ganz Profil den Leib, unausſtehlich kalt und kraftlos wuͤrde dieß kraftvolle Geſicht ſcheinen.</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Nachſte-</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [340/0554]
XII. Abſchnitt. V. Fragment.
guͤte — unbeſchreibliche Reizbarkeit mit ausharrender Geduld. Reinliche Genauheit, und keine
Spur von Pedanterey — unermuͤdliche Treue, und fuͤr den, der ihn kennt, beleidigende Kalt-
heit — die im Augenblicke wieder Eifer und Liebeshitze iſt. Den Einen Augenblick — keine Herr-
ſchaft uͤber ſich ſelbſt — und dann wieder alle moͤgliche Herrſchaft. Ein Arzt mit koͤniglicher Macht.
Jtzt zerſchmilzt ſein Aug in den ſanfteſten, menſchenfreundlichſten Thraͤnen — dann durchſchneidet
es euch wieder mit dem Blicke des Blitzes. Ein Herzregierender Mann — den jedoch ein Kind lei-
ten kann, wenn es ihn kennt — gebildet, keinem Menſchen Langeweile zu machen, aber oft Lan-
geweile mit Todesangſt zu dulden. — Jch hoffe nicht, daß man mir Schuld geben werde, „daß
„ich einem Freunde Complimente machen wolle.“ Es iſt Wort fuͤr Wort wahr. Und ich denke,
es iſt des redlichen Phyſiognomiſten Pflicht, dieſe Wahrheit, bey Vorlegung eines ſo merkwuͤrdi-
gen Bildes, nicht zu verſchweigen; und ich meyne — was ich von ihm ſage, hat nicht die Miene
der Schmeicheley — Sonſt waͤre noch viel zu ſagen, das auch wahr waͤre, und ſo vortrefflich, als
wahr. — Bloß Zutrauen in die Geiſtesſtaͤrke, und Gehorſam gegen die Bitte des Mannes
voll mißkannter — durch ſeine eigne Schuld mißkannter Beſcheidenheit — iſt’s, daß ich nichts
mehr ſage.
Nur noch dieß: Jn dem Bilde, das wir vor uns haben, iſt das Feſte, Starke, Stolze,
Zermalmende des Charakters auffallender, als das Zarte, Empfindſame, Feine — vornehmlich
weil der Mund und die Gegend um den Mund am meiſten verfehlt iſt.
Noch bleibe auch die Manier, wie dieß Portraͤt bearbeitet iſt, nicht unbemerkt. Wider
manche Regeln, wenn man will — und dennoch phyſiognomiſch vortrefflich! So ſcharf ſich vom
Grunde heraushebend! Der aͤußerſte Umriß, ohne eigentlich Umriß zu ſeyn, ſo rein und beſtimmt.
Alles ſo in verhaͤltnißmaͤßiger Weisheit und Kraft gearbeitet; daß ſich alles nach der Wuͤrde ſeines
Charakters zeigt, uͤber alles das vielbedeutende Auge ſich hervordraͤngt. Ohr, Hals, Backen und
Kinn .. in welcher Harmonie der Schattirung! — Man denke ſich nun die rechte Schulter zu-
ruͤck, ganz Profil den Leib, unausſtehlich kalt und kraftlos wuͤrde dieß kraftvolle Geſicht ſcheinen.
Nachſte-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |