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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Beschluß.

Noch ein oder zwey Jahre, wenn Gott Leben und Gesundheit erhält, trag ich
noch alle die Lasten der Physiognomik, bis ich vollkommen gewiß bin, daß sie mei-
nes Tragens nicht mehr bedarf. Dann mag sie ein anderer auf seine Schultern nehmen,
oder sie mag allein stehen und gehen wie sie will -- Ja, allein stehen und gehen wird sie,
immer weniger wankend, immer männlicher, fester, weitwürkender. Diese Zuversicht erfüllt
und beruhigt mein Herz. Der aufmerksame, der prüfende, Versuchmachende Leser, besonders
dieses dritten Bandes, wird sie nicht unnatürlich, und die Aeußerungen darüber nicht unbeschei-
den finden. Wer nicht mit Zuversicht schreiben kann, soll nicht schreiben. Hat jemand eine
Weißagung, so sey sie dem Glauben ähnlich.
Niemand soll über seinen Glauben, seine
Ueberzeugung, sein Gefühl hinaus prophezeyen -- poetisiren, philosophiren, theologisiren, mo-
ralisiren, physiognomisiren -- reden -- und handeln. Was nicht aus Glauben geht, ist
Sünde.
Wer sollte sich das mehr sagen, als der Schriftsteller! und unter den Schriftstellern
wer mehr, als der Physiognomiker! Was nicht mit inniger Zuversicht geschrieben wird, ist
Sünde -- und wird wie alles sündige vergehen -- "denn aller Sünde Sold ist Tod."

Mit jeder Zeile beynahe fühl' ich mich gewisser, ungeachtet ich in demselben Augenblicke,
mit derselben Aufrichtigkeit, und ohne mir selber zu widersprechen, das Geständniß wiederholen
muß -- "daß ich unzählige Dinge nicht weiß, die auch der ungelehrteste Physiognomist wissen
sollte."

Ueber wie manches Kapitel dieses Bandes könnte jetzt leicht ein Buch, werden von einem
künftigen Physiognomisten mehrere geschrieben werden. Jeder Punkt der Schöpfung Got-
tes ist eine Welt, und ein Bild der Unendlichkeit.
Deswegen ekelt's mich an, bald daß ich
so wenig, und bald daß ich nur etwas sage. Leser! ich fehle gewiß im zuwenig und im zuviel.
Ersetzt nicht mit eurer Güte, nein! mit eurer Einsicht, mit eignem Versuchen, mit Nachdenken,
was meinen äußerst mangelhaften Fragmenten fehlt. Laßt mich diese Bitte noch einigemale wieder-
holen. Jhr werdet Wahrheit nachfinden, die ich vorgefunden habe, und vorfinden, die ich nach-
finden werde. Jch freue mich eurer Freude, daß euch so viel, vielleicht neue Wahrheit in diesem

Ver-
Y y 2
Beſchluß.

Noch ein oder zwey Jahre, wenn Gott Leben und Geſundheit erhaͤlt, trag ich
noch alle die Laſten der Phyſiognomik, bis ich vollkommen gewiß bin, daß ſie mei-
nes Tragens nicht mehr bedarf. Dann mag ſie ein anderer auf ſeine Schultern nehmen,
oder ſie mag allein ſtehen und gehen wie ſie will — Ja, allein ſtehen und gehen wird ſie,
immer weniger wankend, immer maͤnnlicher, feſter, weitwuͤrkender. Dieſe Zuverſicht erfuͤllt
und beruhigt mein Herz. Der aufmerkſame, der pruͤfende, Verſuchmachende Leſer, beſonders
dieſes dritten Bandes, wird ſie nicht unnatuͤrlich, und die Aeußerungen daruͤber nicht unbeſchei-
den finden. Wer nicht mit Zuverſicht ſchreiben kann, ſoll nicht ſchreiben. Hat jemand eine
Weißagung, ſo ſey ſie dem Glauben aͤhnlich.
Niemand ſoll uͤber ſeinen Glauben, ſeine
Ueberzeugung, ſein Gefuͤhl hinaus prophezeyen — poetiſiren, philoſophiren, theologiſiren, mo-
raliſiren, phyſiognomiſiren — reden — und handeln. Was nicht aus Glauben geht, iſt
Suͤnde.
Wer ſollte ſich das mehr ſagen, als der Schriftſteller! und unter den Schriftſtellern
wer mehr, als der Phyſiognomiker! Was nicht mit inniger Zuverſicht geſchrieben wird, iſt
Suͤnde — und wird wie alles ſuͤndige vergehen — „denn aller Suͤnde Sold iſt Tod.“

Mit jeder Zeile beynahe fuͤhl’ ich mich gewiſſer, ungeachtet ich in demſelben Augenblicke,
mit derſelben Aufrichtigkeit, und ohne mir ſelber zu widerſprechen, das Geſtaͤndniß wiederholen
muß — „daß ich unzaͤhlige Dinge nicht weiß, die auch der ungelehrteſte Phyſiognomiſt wiſſen
ſollte.“

Ueber wie manches Kapitel dieſes Bandes koͤnnte jetzt leicht ein Buch, werden von einem
kuͤnftigen Phyſiognomiſten mehrere geſchrieben werden. Jeder Punkt der Schoͤpfung Got-
tes iſt eine Welt, und ein Bild der Unendlichkeit.
Deswegen ekelt’s mich an, bald daß ich
ſo wenig, und bald daß ich nur etwas ſage. Leſer! ich fehle gewiß im zuwenig und im zuviel.
Erſetzt nicht mit eurer Guͤte, nein! mit eurer Einſicht, mit eignem Verſuchen, mit Nachdenken,
was meinen aͤußerſt mangelhaften Fragmenten fehlt. Laßt mich dieſe Bitte noch einigemale wieder-
holen. Jhr werdet Wahrheit nachfinden, die ich vorgefunden habe, und vorfinden, die ich nach-
finden werde. Jch freue mich eurer Freude, daß euch ſo viel, vielleicht neue Wahrheit in dieſem

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[355/0577] Beſchluß. Noch ein oder zwey Jahre, wenn Gott Leben und Geſundheit erhaͤlt, trag ich noch alle die Laſten der Phyſiognomik, bis ich vollkommen gewiß bin, daß ſie mei- nes Tragens nicht mehr bedarf. Dann mag ſie ein anderer auf ſeine Schultern nehmen, oder ſie mag allein ſtehen und gehen wie ſie will — Ja, allein ſtehen und gehen wird ſie, immer weniger wankend, immer maͤnnlicher, feſter, weitwuͤrkender. Dieſe Zuverſicht erfuͤllt und beruhigt mein Herz. Der aufmerkſame, der pruͤfende, Verſuchmachende Leſer, beſonders dieſes dritten Bandes, wird ſie nicht unnatuͤrlich, und die Aeußerungen daruͤber nicht unbeſchei- den finden. Wer nicht mit Zuverſicht ſchreiben kann, ſoll nicht ſchreiben. Hat jemand eine Weißagung, ſo ſey ſie dem Glauben aͤhnlich. Niemand ſoll uͤber ſeinen Glauben, ſeine Ueberzeugung, ſein Gefuͤhl hinaus prophezeyen — poetiſiren, philoſophiren, theologiſiren, mo- raliſiren, phyſiognomiſiren — reden — und handeln. Was nicht aus Glauben geht, iſt Suͤnde. Wer ſollte ſich das mehr ſagen, als der Schriftſteller! und unter den Schriftſtellern wer mehr, als der Phyſiognomiker! Was nicht mit inniger Zuverſicht geſchrieben wird, iſt Suͤnde — und wird wie alles ſuͤndige vergehen — „denn aller Suͤnde Sold iſt Tod.“ Mit jeder Zeile beynahe fuͤhl’ ich mich gewiſſer, ungeachtet ich in demſelben Augenblicke, mit derſelben Aufrichtigkeit, und ohne mir ſelber zu widerſprechen, das Geſtaͤndniß wiederholen muß — „daß ich unzaͤhlige Dinge nicht weiß, die auch der ungelehrteſte Phyſiognomiſt wiſſen ſollte.“ Ueber wie manches Kapitel dieſes Bandes koͤnnte jetzt leicht ein Buch, werden von einem kuͤnftigen Phyſiognomiſten mehrere geſchrieben werden. Jeder Punkt der Schoͤpfung Got- tes iſt eine Welt, und ein Bild der Unendlichkeit. Deswegen ekelt’s mich an, bald daß ich ſo wenig, und bald daß ich nur etwas ſage. Leſer! ich fehle gewiß im zuwenig und im zuviel. Erſetzt nicht mit eurer Guͤte, nein! mit eurer Einſicht, mit eignem Verſuchen, mit Nachdenken, was meinen aͤußerſt mangelhaften Fragmenten fehlt. Laßt mich dieſe Bitte noch einigemale wieder- holen. Jhr werdet Wahrheit nachfinden, die ich vorgefunden habe, und vorfinden, die ich nach- finden werde. Jch freue mich eurer Freude, daß euch ſo viel, vielleicht neue Wahrheit in dieſem Ver- Y y 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/577>, abgerufen am 21.11.2024.