Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.Ueber griechische Gesichter. reinen, kraftvollen, simpeln Nase? diesem mannhaften Munde? diesem vordringenden Kinne? --würdet ihr nicht den ersten anstaunen, und beym zweyten verweilen? wäre der erste nicht Stufe zur Bewunderung des zweyten? Sähet ihr in des zweyten Stirne, seiner sanft sich bogenden Nase, seiner kürzern Oberlippe, der feinern Unterlippe -- nicht noch mehr, noch feiner fühlende Kraft in hoher Einfachheit, als im ersten? ... Und -- könnt ihr Euch des Wunsches erwehren -- ich wenigstens kann's nicht -- -- "unter solchen Menschen zu leben" -- -- und doch ist, was wir vor uns haben, nichts weniger als Jdeal -- gewiß nur Carrikatur einmal existirender Menschheit -- Einmal existirender! ... O sollt' es möglich, sollt' es unmöglich seyn -- aus der Mannichfaltig- keit und Kraftlosigkeit unsers thatenlosen Zeitalters wieder zurück zu steigen zum Quelle der Ein- fachheit und Kraft? ... O daß das Anschauen besserer Menschheit auf meine Leser würkte! o daß ich meinem verstimmten Zeitalter sagen dürfte, was so -- brennend heiß mein Herz durch- wühlt -- wenn ich gerade nur diese beyden Köpfe ansehe -- die gewiß kein veridealisirender Mah- ler unserer Zeit aus seinen lebenden Originalien herausidealisiren wird! "das ist Menschheit! -- und: "du und ich -- sind Menschen!" -- Wenn ich große Menschenempfindungen, große Men- schenthaten lese -- "das ist Menschheit" -- ruft mein banges frohes, niedergedrücktes, hoffnungs- volles Herz aus -- "das ist Menschheit! auch ich bin Mensch! was in den besten Menschen ist -- "ist auch in mir!" -- So beym Anblicke schönmännlicher Menschenform -- auch meine Gestalt ist so perfektibel, wie's mein Geist ist! und Ehre des Urhebers der Menschheit ist's -- Freude ist's dem, der aller seiner Werke sich freut; -- und Freude allen seinen Geschöpfen, denen die Augen geöffnet sind, zu sehen in sichtbarer Menschenschönheit, unsichtbare Gottesschöne! Freude im Him- mel und auf Erden ist -- Offenbarung der allverschönernden Gottesherrlichkeit im Menschenange- sichte ... O! so wahr Gott lebt, und so wahr ich itzt die Feder in der eilenden Hand halte -- unmittelbarere Gottes- und Menschenfreude giebt's keine, als Veredlung der Menschheit -- die so möglich ist! -- Möglich -- wo nicht dir; das ist, deinem Geiste, der sich als Jch denkt, doch dei- nem Geiste, der sich als Stral der ewigen Sonne, als Kind des Vaters der Geister, als "Schoß an der Weinrebe" -- denket ... Siehe, was den Menschen unmöglich scheint, ist's nicht bey dem, der den Menschen zum den
Ueber griechiſche Geſichter. reinen, kraftvollen, ſimpeln Naſe? dieſem mannhaften Munde? dieſem vordringenden Kinne? —wuͤrdet ihr nicht den erſten anſtaunen, und beym zweyten verweilen? waͤre der erſte nicht Stufe zur Bewunderung des zweyten? Saͤhet ihr in des zweyten Stirne, ſeiner ſanft ſich bogenden Naſe, ſeiner kuͤrzern Oberlippe, der feinern Unterlippe — nicht noch mehr, noch feiner fuͤhlende Kraft in hoher Einfachheit, als im erſten? ... Und — koͤnnt ihr Euch des Wunſches erwehren — ich wenigſtens kann’s nicht — — „unter ſolchen Menſchen zu leben“ — — und doch iſt, was wir vor uns haben, nichts weniger als Jdeal — gewiß nur Carrikatur einmal exiſtirender Menſchheit — Einmal exiſtirender! ... O ſollt’ es moͤglich, ſollt’ es unmoͤglich ſeyn — aus der Mannichfaltig- keit und Kraftloſigkeit unſers thatenloſen Zeitalters wieder zuruͤck zu ſteigen zum Quelle der Ein- fachheit und Kraft? ... O daß das Anſchauen beſſerer Menſchheit auf meine Leſer wuͤrkte! o daß ich meinem verſtimmten Zeitalter ſagen duͤrfte, was ſo — brennend heiß mein Herz durch- wuͤhlt — wenn ich gerade nur dieſe beyden Koͤpfe anſehe — die gewiß kein veridealiſirender Mah- ler unſerer Zeit aus ſeinen lebenden Originalien herausidealiſiren wird! „das iſt Menſchheit! — und: „du und ich — ſind Menſchen!“ — Wenn ich große Menſchenempfindungen, große Men- ſchenthaten leſe — „das iſt Menſchheit“ — ruft mein banges frohes, niedergedruͤcktes, hoffnungs- volles Herz aus — „das iſt Menſchheit! auch ich bin Menſch! was in den beſten Menſchen iſt — „iſt auch in mir!“ — So beym Anblicke ſchoͤnmaͤnnlicher Menſchenform — auch meine Geſtalt iſt ſo perfektibel, wie’s mein Geiſt iſt! und Ehre des Urhebers der Menſchheit iſt’s — Freude iſt’s dem, der aller ſeiner Werke ſich freut; — und Freude allen ſeinen Geſchoͤpfen, denen die Augen geoͤffnet ſind, zu ſehen in ſichtbarer Menſchenſchoͤnheit, unſichtbare Gottesſchoͤne! Freude im Him- mel und auf Erden iſt — Offenbarung der allverſchoͤnernden Gottesherrlichkeit im Menſchenange- ſichte ... O! ſo wahr Gott lebt, und ſo wahr ich itzt die Feder in der eilenden Hand halte — unmittelbarere Gottes- und Menſchenfreude giebt’s keine, als Veredlung der Menſchheit — die ſo moͤglich iſt! — Moͤglich — wo nicht dir; das iſt, deinem Geiſte, der ſich als Jch denkt, doch dei- nem Geiſte, der ſich als Stral der ewigen Sonne, als Kind des Vaters der Geiſter, als „Schoß an der Weinrebe“ — denket ... Siehe, was den Menſchen unmoͤglich ſcheint, iſt’s nicht bey dem, der den Menſchen zum den
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Ueber griechiſche Geſichter.
reinen, kraftvollen, ſimpeln Naſe? dieſem mannhaften Munde? dieſem vordringenden Kinne? —
wuͤrdet ihr nicht den erſten anſtaunen, und beym zweyten verweilen? waͤre der erſte nicht Stufe
zur Bewunderung des zweyten? Saͤhet ihr in des zweyten Stirne, ſeiner ſanft ſich bogenden Naſe,
ſeiner kuͤrzern Oberlippe, der feinern Unterlippe — nicht noch mehr, noch feiner fuͤhlende Kraft in
hoher Einfachheit, als im erſten? ... Und — koͤnnt ihr Euch des Wunſches erwehren — ich
wenigſtens kann’s nicht — — „unter ſolchen Menſchen zu leben“ — — und doch iſt, was wir vor
uns haben, nichts weniger als Jdeal — gewiß nur Carrikatur einmal exiſtirender Menſchheit —
Einmal exiſtirender! ... O ſollt’ es moͤglich, ſollt’ es unmoͤglich ſeyn — aus der Mannichfaltig-
keit und Kraftloſigkeit unſers thatenloſen Zeitalters wieder zuruͤck zu ſteigen zum Quelle der Ein-
fachheit und Kraft? ... O daß das Anſchauen beſſerer Menſchheit auf meine Leſer wuͤrkte! o
daß ich meinem verſtimmten Zeitalter ſagen duͤrfte, was ſo — brennend heiß mein Herz durch-
wuͤhlt — wenn ich gerade nur dieſe beyden Koͤpfe anſehe — die gewiß kein veridealiſirender Mah-
ler unſerer Zeit aus ſeinen lebenden Originalien herausidealiſiren wird! „das iſt Menſchheit! —
und: „du und ich — ſind Menſchen!“ — Wenn ich große Menſchenempfindungen, große Men-
ſchenthaten leſe — „das iſt Menſchheit“ — ruft mein banges frohes, niedergedruͤcktes, hoffnungs-
volles Herz aus — „das iſt Menſchheit! auch ich bin Menſch! was in den beſten Menſchen iſt —
„iſt auch in mir!“ — So beym Anblicke ſchoͤnmaͤnnlicher Menſchenform — auch meine Geſtalt
iſt ſo perfektibel, wie’s mein Geiſt iſt! und Ehre des Urhebers der Menſchheit iſt’s — Freude iſt’s
dem, der aller ſeiner Werke ſich freut; — und Freude allen ſeinen Geſchoͤpfen, denen die Augen
geoͤffnet ſind, zu ſehen in ſichtbarer Menſchenſchoͤnheit, unſichtbare Gottesſchoͤne! Freude im Him-
mel und auf Erden iſt — Offenbarung der allverſchoͤnernden Gottesherrlichkeit im Menſchenange-
ſichte ... O! ſo wahr Gott lebt, und ſo wahr ich itzt die Feder in der eilenden Hand halte —
unmittelbarere Gottes- und Menſchenfreude giebt’s keine, als Veredlung der Menſchheit — die ſo
moͤglich iſt! — Moͤglich — wo nicht dir; das iſt, deinem Geiſte, der ſich als Jch denkt, doch dei-
nem Geiſte, der ſich als Stral der ewigen Sonne, als Kind des Vaters der Geiſter, als
„Schoß an der Weinrebe“ — denket ...
Siehe, was den Menſchen unmoͤglich ſcheint, iſt’s nicht bey dem, der den Menſchen zum
Menſchen — und zum Ebenbilde ſeines in der Menſchheit offenbarten Sohnes macht ... O unter
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