Wer weiß, daß er Wahrheit schreibt, nützliche Wahrheit, die immer offen- barer werden muß, und jemehr sie offenbar wird, den Vater der Wahrheit verherrlicht, der kann Widerspruch dulden, um der Wahrheit willen leiden, und freut sich der Ehre. Jch denke meine Geschichte rechtfertigt diesen Eingang.
Jn die Sinne fallenders, untersuchbarers ist wol nichts als die Physiogno- mie des Menschen. Jch untersuche, und bestrebe mich, meine Untersuchungen aufs genaueste und bestimmteste mit Worten und Zeichnungen darzustellen. Will- kommen sey mir jeder Freund der Wahrheit, der mir mit Gründen und Zeich- nungen beweißt, daß ich irre; sogleich werde ich meine Meynung ändern. Denn ich glaube, der ist ein Grundbösewicht, der der zweyten bessern Ueberzeugung seine erste nicht aufopfert. Aber es giebt Ueberzeugungen, die sich nicht ändern lassen. Den Glauben an die Physiognomie überhaupt, werd' ich nie ändern. Diese Ueberzeugung von der Wahrheit der Physiognomie geht bey mir mit der vom Da- seyn menschlicher Gesichter außer mir in gleichem Schritte. Daß ich in besondern Urtheilen über Gesichter irre, gestand ich häufig -- und es kann mir allenfalls alle Tage leicht bewiesen werden. Aber daß die Physiognomie an sich irre macht, weiß ich, kann nicht bewiesen werden; so wenig bewiesen werden kann, daß das Auge nicht zum Sehen, die Nase nicht zum Riechen, der Mund nicht zum Spre- chen gegeben seyn.
Die größten Antiphysiognomiker widersprechen sich alle Augenblicke selber.
Auch hat noch keiner, meines Wissens, meinen vorgelegten Beobachtun- gen und Erfahrungen andere entscheidende entgegen gesetzt. --
Spötter
Vorrede.
Wer weiß, daß er Wahrheit ſchreibt, nuͤtzliche Wahrheit, die immer offen- barer werden muß, und jemehr ſie offenbar wird, den Vater der Wahrheit verherrlicht, der kann Widerſpruch dulden, um der Wahrheit willen leiden, und freut ſich der Ehre. Jch denke meine Geſchichte rechtfertigt dieſen Eingang.
Jn die Sinne fallenders, unterſuchbarers iſt wol nichts als die Phyſiogno- mie des Menſchen. Jch unterſuche, und beſtrebe mich, meine Unterſuchungen aufs genaueſte und beſtimmteſte mit Worten und Zeichnungen darzuſtellen. Will- kommen ſey mir jeder Freund der Wahrheit, der mir mit Gruͤnden und Zeich- nungen beweißt, daß ich irre; ſogleich werde ich meine Meynung aͤndern. Denn ich glaube, der iſt ein Grundboͤſewicht, der der zweyten beſſern Ueberzeugung ſeine erſte nicht aufopfert. Aber es giebt Ueberzeugungen, die ſich nicht aͤndern laſſen. Den Glauben an die Phyſiognomie uͤberhaupt, werd’ ich nie aͤndern. Dieſe Ueberzeugung von der Wahrheit der Phyſiognomie geht bey mir mit der vom Da- ſeyn menſchlicher Geſichter außer mir in gleichem Schritte. Daß ich in beſondern Urtheilen uͤber Geſichter irre, geſtand ich haͤufig — und es kann mir allenfalls alle Tage leicht bewieſen werden. Aber daß die Phyſiognomie an ſich irre macht, weiß ich, kann nicht bewieſen werden; ſo wenig bewieſen werden kann, daß das Auge nicht zum Sehen, die Naſe nicht zum Riechen, der Mund nicht zum Spre- chen gegeben ſeyn.
Die groͤßten Antiphyſiognomiker widerſprechen ſich alle Augenblicke ſelber.
Auch hat noch keiner, meines Wiſſens, meinen vorgelegten Beobachtun- gen und Erfahrungen andere entſcheidende entgegen geſetzt. —
Spoͤtter
<TEI><text><front><pbfacs="#f0011"n="[VII]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divtype="preface"n="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Vorrede.</hi></hi></head><lb/><p><hirendition="#in">W</hi>er weiß, daß er <hirendition="#fr">Wahrheit</hi>ſchreibt, <hirendition="#fr">nuͤtzliche</hi> Wahrheit, die <hirendition="#fr">immer offen-<lb/>
barer werden muß,</hi> und jemehr ſie offenbar wird, den <hirendition="#fr">Vater der Wahrheit<lb/>
verherrlicht,</hi> der kann Widerſpruch dulden, um der Wahrheit willen leiden, und<lb/><hirendition="#fr">freut ſich der Ehre.</hi> Jch denke meine Geſchichte rechtfertigt dieſen Eingang.</p><lb/><p>Jn die Sinne fallenders, unterſuchbarers iſt wol nichts als die Phyſiogno-<lb/>
mie des Menſchen. Jch <hirendition="#fr">unterſuche,</hi> und beſtrebe mich, meine Unterſuchungen<lb/>
aufs genaueſte und beſtimmteſte mit <hirendition="#fr">Worten</hi> und <hirendition="#fr">Zeichnungen</hi> darzuſtellen. Will-<lb/>
kommen ſey mir jeder Freund der Wahrheit, der mir mit <hirendition="#fr">Gruͤnden</hi> und <hirendition="#fr">Zeich-<lb/>
nungen</hi> beweißt, daß ich irre; ſogleich werde ich meine Meynung aͤndern. Denn<lb/>
ich glaube, der iſt ein Grundboͤſewicht, der der zweyten beſſern Ueberzeugung ſeine<lb/>
erſte nicht aufopfert. Aber es giebt Ueberzeugungen, die ſich nicht aͤndern laſſen.<lb/>
Den Glauben an die Phyſiognomie <hirendition="#fr">uͤberhaupt,</hi> werd’ ich nie aͤndern. Dieſe<lb/>
Ueberzeugung von der Wahrheit der Phyſiognomie geht bey mir mit der vom Da-<lb/>ſeyn menſchlicher Geſichter außer mir in gleichem Schritte. Daß ich in beſondern<lb/>
Urtheilen uͤber Geſichter irre, geſtand ich haͤufig — und es kann mir allenfalls<lb/>
alle Tage leicht bewieſen werden. Aber daß die <hirendition="#fr">Phyſiognomie an ſich</hi> irre macht,<lb/>
weiß ich, kann nicht bewieſen werden; ſo wenig bewieſen werden kann, daß das<lb/>
Auge nicht zum Sehen, die Naſe nicht zum Riechen, der Mund nicht zum Spre-<lb/>
chen gegeben ſeyn.</p><lb/><p>Die groͤßten Antiphyſiognomiker widerſprechen ſich alle Augenblicke ſelber.</p><lb/><p>Auch hat noch keiner, meines Wiſſens, meinen vorgelegten <hirendition="#fr">Beobachtun-<lb/>
gen</hi> und <hirendition="#fr">Erfahrungen</hi> andere <hirendition="#fr">entſcheidende</hi> entgegen geſetzt. —</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Spoͤtter</fw><lb/></div></front></text></TEI>
[[VII]/0011]
Vorrede.
Wer weiß, daß er Wahrheit ſchreibt, nuͤtzliche Wahrheit, die immer offen-
barer werden muß, und jemehr ſie offenbar wird, den Vater der Wahrheit
verherrlicht, der kann Widerſpruch dulden, um der Wahrheit willen leiden, und
freut ſich der Ehre. Jch denke meine Geſchichte rechtfertigt dieſen Eingang.
Jn die Sinne fallenders, unterſuchbarers iſt wol nichts als die Phyſiogno-
mie des Menſchen. Jch unterſuche, und beſtrebe mich, meine Unterſuchungen
aufs genaueſte und beſtimmteſte mit Worten und Zeichnungen darzuſtellen. Will-
kommen ſey mir jeder Freund der Wahrheit, der mir mit Gruͤnden und Zeich-
nungen beweißt, daß ich irre; ſogleich werde ich meine Meynung aͤndern. Denn
ich glaube, der iſt ein Grundboͤſewicht, der der zweyten beſſern Ueberzeugung ſeine
erſte nicht aufopfert. Aber es giebt Ueberzeugungen, die ſich nicht aͤndern laſſen.
Den Glauben an die Phyſiognomie uͤberhaupt, werd’ ich nie aͤndern. Dieſe
Ueberzeugung von der Wahrheit der Phyſiognomie geht bey mir mit der vom Da-
ſeyn menſchlicher Geſichter außer mir in gleichem Schritte. Daß ich in beſondern
Urtheilen uͤber Geſichter irre, geſtand ich haͤufig — und es kann mir allenfalls
alle Tage leicht bewieſen werden. Aber daß die Phyſiognomie an ſich irre macht,
weiß ich, kann nicht bewieſen werden; ſo wenig bewieſen werden kann, daß das
Auge nicht zum Sehen, die Naſe nicht zum Riechen, der Mund nicht zum Spre-
chen gegeben ſeyn.
Die groͤßten Antiphyſiognomiker widerſprechen ſich alle Augenblicke ſelber.
Auch hat noch keiner, meines Wiſſens, meinen vorgelegten Beobachtun-
gen und Erfahrungen andere entſcheidende entgegen geſetzt. —
Spoͤtter
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. [VII]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/11>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.