"schen Gemüthsart. Alle seine Gefühle und alle seine Neigungen sind feurig, lebhaft und aus- "nehmend."
Dieß ist durchaus nicht allgemein wahr. Das phlegmatische Temperament ist dem Genie so unentbehrlich, als das cholerische immer. Das cholerischeallein ist vielleicht an sich so wenig genialisch, als das phlegmatische; und der Zusatz von Phlegma ist zur Temperatur des Genies so wesentlich, als es eine Dosis von Cholera zu seyn scheint. Feuer und Wasser bestimmen beyde gleich mit die Reizbarkeit der Nerven, von denen alles abhängt. -- Die feurigsten Leute sind oft die gefühllosesten; die genielosesten. Ja ein bloß Feuriger ist gewiß keiner wahren Be- geisterung fähig. Freylich auch der bloß Phlegmatische nicht. Doch zeigt die Erfahrung, daß Kälte und Phlegma für tausend Dinge, die andre rühren, oft Wärme und Theilnehmung für Ei- nes zeugen können, was niemand rührt. Und dieß Eine kann auch den kältesten, phlegmatischten Mann zum Genie machen; das ist, ihn quasi inspiriren. Jch kenne sehr kalte Leute, die unerschöpf- lich sind an unlernbaren Originalgedanken. Man muß also nie schlechterdings von kaltscheinenden Menschen sagen: Ohne Genie. So wenig sich von allen feurigen Köpfen sagen läßt: Genie! Kälte an sich ist so wenig Ungenie, als Wärme an sich Genie ist. Vielleicht macht beydes zu- sammen noch nicht Genie, sondern eine glückliche Mischung, oder vielmehr eine solche Mischung, da sich alle die sogenannten vier Temperamente wechselsweise stoßen und reizen, läßt erst den Funken ent- springen, der Genie heißt.
"Weder die Ergötzungen noch die Leiden des Genies sind von der gemeinen Art. Es giebt "in seiner Empfindlichkeit für beyde eine gewisse Feinheit, die dem gemeinen Haufen völlig unbe- "kannt und unbegreiflich ist."
Alles, was eigentlich ins Gebiete des Genies gehört, ist schlechterdings unbegreiflich. Der Effekt ist da, ist gewiß, ist spürbar. Aber unerkennbar, undenkbar die Ursache. So wenig Reli- gion, die, als solche, nichts als Genie ist -- gottesgeistig -- sich lernen oder lehren läßt, ich spreche von unmittelbarem Gottesgefühle, nicht von Theologie: vom weltüberwindenden Glauben an die Zukunft; nicht von einem symbolischen auswendig gelernten Glaubensbe- kenntnisse -- So wenig irgend etwas wahrhaft göttliches sich lernen oder lehren läßt, ohne daß
der
I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. I. Zugabe.
„ſchen Gemuͤthsart. Alle ſeine Gefuͤhle und alle ſeine Neigungen ſind feurig, lebhaft und aus- „nehmend.“
Dieß iſt durchaus nicht allgemein wahr. Das phlegmatiſche Temperament iſt dem Genie ſo unentbehrlich, als das choleriſche immer. Das choleriſcheallein iſt vielleicht an ſich ſo wenig genialiſch, als das phlegmatiſche; und der Zuſatz von Phlegma iſt zur Temperatur des Genies ſo weſentlich, als es eine Doſis von Cholera zu ſeyn ſcheint. Feuer und Waſſer beſtimmen beyde gleich mit die Reizbarkeit der Nerven, von denen alles abhaͤngt. — Die feurigſten Leute ſind oft die gefuͤhlloſeſten; die genieloſeſten. Ja ein bloß Feuriger iſt gewiß keiner wahren Be- geiſterung faͤhig. Freylich auch der bloß Phlegmatiſche nicht. Doch zeigt die Erfahrung, daß Kaͤlte und Phlegma fuͤr tauſend Dinge, die andre ruͤhren, oft Waͤrme und Theilnehmung fuͤr Ei- nes zeugen koͤnnen, was niemand ruͤhrt. Und dieß Eine kann auch den kaͤlteſten, phlegmatiſchten Mann zum Genie machen; das iſt, ihn quaſi inſpiriren. Jch kenne ſehr kalte Leute, die unerſchoͤpf- lich ſind an unlernbaren Originalgedanken. Man muß alſo nie ſchlechterdings von kaltſcheinenden Menſchen ſagen: Ohne Genie. So wenig ſich von allen feurigen Koͤpfen ſagen laͤßt: Genie! Kaͤlte an ſich iſt ſo wenig Ungenie, als Waͤrme an ſich Genie iſt. Vielleicht macht beydes zu- ſammen noch nicht Genie, ſondern eine gluͤckliche Miſchung, oder vielmehr eine ſolche Miſchung, da ſich alle die ſogenannten vier Temperamente wechſelsweiſe ſtoßen und reizen, laͤßt erſt den Funken ent- ſpringen, der Genie heißt.
„Weder die Ergoͤtzungen noch die Leiden des Genies ſind von der gemeinen Art. Es giebt „in ſeiner Empfindlichkeit fuͤr beyde eine gewiſſe Feinheit, die dem gemeinen Haufen voͤllig unbe- „kannt und unbegreiflich iſt.“
Alles, was eigentlich ins Gebiete des Genies gehoͤrt, iſt ſchlechterdings unbegreiflich. Der Effekt iſt da, iſt gewiß, iſt ſpuͤrbar. Aber unerkennbar, undenkbar die Urſache. So wenig Reli- gion, die, als ſolche, nichts als Genie iſt — gottesgeiſtig — ſich lernen oder lehren laͤßt, ich ſpreche von unmittelbarem Gottesgefuͤhle, nicht von Theologie: vom weltuͤberwindenden Glauben an die Zukunft; nicht von einem ſymboliſchen auswendig gelernten Glaubensbe- kenntniſſe — So wenig irgend etwas wahrhaft goͤttliches ſich lernen oder lehren laͤßt, ohne daß
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I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. I. Zugabe.
„ſchen Gemuͤthsart. Alle ſeine Gefuͤhle und alle ſeine Neigungen ſind feurig, lebhaft und aus-
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Dieß iſt durchaus nicht allgemein wahr. Das phlegmatiſche Temperament iſt dem Genie
ſo unentbehrlich, als das choleriſche immer. Das choleriſche allein iſt vielleicht an ſich ſo wenig
genialiſch, als das phlegmatiſche; und der Zuſatz von Phlegma iſt zur Temperatur des Genies ſo
weſentlich, als es eine Doſis von Cholera zu ſeyn ſcheint. Feuer und Waſſer beſtimmen beyde
gleich mit die Reizbarkeit der Nerven, von denen alles abhaͤngt. — Die feurigſten Leute ſind
oft die gefuͤhlloſeſten; die genieloſeſten. Ja ein bloß Feuriger iſt gewiß keiner wahren Be-
geiſterung faͤhig. Freylich auch der bloß Phlegmatiſche nicht. Doch zeigt die Erfahrung, daß
Kaͤlte und Phlegma fuͤr tauſend Dinge, die andre ruͤhren, oft Waͤrme und Theilnehmung fuͤr Ei-
nes zeugen koͤnnen, was niemand ruͤhrt. Und dieß Eine kann auch den kaͤlteſten, phlegmatiſchten
Mann zum Genie machen; das iſt, ihn quaſi inſpiriren. Jch kenne ſehr kalte Leute, die unerſchoͤpf-
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Menſchen ſagen: Ohne Genie. So wenig ſich von allen feurigen Koͤpfen ſagen laͤßt: Genie!
Kaͤlte an ſich iſt ſo wenig Ungenie, als Waͤrme an ſich Genie iſt. Vielleicht macht beydes zu-
ſammen noch nicht Genie, ſondern eine gluͤckliche Miſchung, oder vielmehr eine ſolche Miſchung, da
ſich alle die ſogenannten vier Temperamente wechſelsweiſe ſtoßen und reizen, laͤßt erſt den Funken ent-
ſpringen, der Genie heißt.
„Weder die Ergoͤtzungen noch die Leiden des Genies ſind von der gemeinen Art. Es giebt
„in ſeiner Empfindlichkeit fuͤr beyde eine gewiſſe Feinheit, die dem gemeinen Haufen voͤllig unbe-
„kannt und unbegreiflich iſt.“
Alles, was eigentlich ins Gebiete des Genies gehoͤrt, iſt ſchlechterdings unbegreiflich. Der
Effekt iſt da, iſt gewiß, iſt ſpuͤrbar. Aber unerkennbar, undenkbar die Urſache. So wenig Reli-
gion, die, als ſolche, nichts als Genie iſt — gottesgeiſtig — ſich lernen oder lehren laͤßt, ich
ſpreche von unmittelbarem Gottesgefuͤhle, nicht von Theologie: vom weltuͤberwindenden
Glauben an die Zukunft; nicht von einem ſymboliſchen auswendig gelernten Glaubensbe-
kenntniſſe — So wenig irgend etwas wahrhaft goͤttliches ſich lernen oder lehren laͤßt, ohne daß
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/122>, abgerufen am 24.11.2024.
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