Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.II. Abschnitt. II. Fragment. kann nur, was er kann, und ist, was er ist. Er kann nur auf einen gewissen Grad steigen -- undweiter nicht, und wenn man ihn mit der Unbarmherzigkeit eines ergrimmten Scharfrichters auf den Tod geißelte. Jeder Mensch soll nach sich selbst gemessen werden: Was kann er, als er? Er in den Umständen, in denen er ist? -- Nicht, was könnte ich in seiner Lage? O Menschen! Brüder! Ei- nes Vaters Kinder, wann wollt ihr einander billig beurtheilen? wann aufhören, vom Empfinder Abstraktionen des kalten Denkers, vom kalten Denker warme Empfindungen zu fordern? zu erzwin- gen? wann vom Apfelbaum keine Birnen, vom Weinstock keine Aepfel mehr verlangen? -- Der Mensch ist Mensch, und kann nicht Engel seyn, wenn er's auch wünscht. Und so ist jeder Mensch ein eigen Jch und Selbst, und kann so wenig ein anderes Selbst werden, als ein Engel ... Z. E. ich kann nie zu dem unerschrockenen Muth eines Carls des XII. nie zur planmachenden Weisheit eines Heideggers, nie zur algebraischen Fazilität eines Eulers -- nie zum klassifizirenden Genie eines Linneus gebildet werden, so lange meine Stirn und meine Nase so luftig, locker, unknöchern und so -- umrissen ist, wie sie ist. -- Jn meinem Bezirke bin ich frey. Jn meinem Kreise kann ich wirken wie ich will. Wenn ich ein Pfund empfangen habe, so kann ich nicht wirken, wie der, so zwey empfangen hat. Aber dieß Eine kann ich gut oder übel anwenden. Ein gewisses Maaß von Kraft ist mir gegeben, das ich gebrauchen und durch den Gebrauch vermehren, durch Nichtgebrauch vermindern, durch Mißbrauch verlieren kann -- aber nie kann ich -- mit diesem bestimmten Maaß von Kraft das ausrichten, was sich mit einem doppelten eben so angewandten Maaße ausrich- ten ließe -- Fleiß kann dem Talente, das nicht fleißig ist, und Talent dem Genie, das keine Gele- genheit und Uebung hat sich zu entwickeln -- sehr nahe kommen, oder vielmehr nahe zu kommen schei- nen -- aber nie kann Fleiß Untalent zum Talent, oder Genie machen. Jeder muß bleiben, wer er ist. Er kann sich nur auf einen gewissen Grad vervollkommnen, ausbreiten, entwickeln. Jeder ist Fürst -- und Souverain, aber nur in seinem großen oder kleinen Fürstenthume. Er kanns an- bauen, daß es so viel Ertrag giebt, als ein noch einmal so großes, das nicht angebaut wird. Aber sein Fürstenthum kann er nicht erweitern, bis der Herr ihm seines Nachbars unangebautes Fürsten- thum schenkt, wenn das seinige ganz angebaut ist. Dieser Glaube an diese Freyheit und Nichtfreyheit des Menschen -- ist's, der jeden demüthig und muthig, bescheiden und wirksam machen kann. Bis hieher
II. Abſchnitt. II. Fragment. kann nur, was er kann, und iſt, was er iſt. Er kann nur auf einen gewiſſen Grad ſteigen — undweiter nicht, und wenn man ihn mit der Unbarmherzigkeit eines ergrimmten Scharfrichters auf den Tod geißelte. Jeder Menſch ſoll nach ſich ſelbſt gemeſſen werden: Was kann er, als er? Er in den Umſtaͤnden, in denen er iſt? — Nicht, was koͤnnte ich in ſeiner Lage? O Menſchen! Bruͤder! Ei- nes Vaters Kinder, wann wollt ihr einander billig beurtheilen? wann aufhoͤren, vom Empfinder Abſtraktionen des kalten Denkers, vom kalten Denker warme Empfindungen zu fordern? zu erzwin- gen? wann vom Apfelbaum keine Birnen, vom Weinſtock keine Aepfel mehr verlangen? — Der Menſch iſt Menſch, und kann nicht Engel ſeyn, wenn er’s auch wuͤnſcht. Und ſo iſt jeder Menſch ein eigen Jch und Selbſt, und kann ſo wenig ein anderes Selbſt werden, als ein Engel ... Z. E. ich kann nie zu dem unerſchrockenen Muth eines Carls des XII. nie zur planmachenden Weisheit eines Heideggers, nie zur algebraiſchen Fazilitaͤt eines Eulers — nie zum klaſſifizirenden Genie eines Linneus gebildet werden, ſo lange meine Stirn und meine Naſe ſo luftig, locker, unknoͤchern und ſo — umriſſen iſt, wie ſie iſt. — Jn meinem Bezirke bin ich frey. Jn meinem Kreiſe kann ich wirken wie ich will. Wenn ich ein Pfund empfangen habe, ſo kann ich nicht wirken, wie der, ſo zwey empfangen hat. Aber dieß Eine kann ich gut oder uͤbel anwenden. Ein gewiſſes Maaß von Kraft iſt mir gegeben, das ich gebrauchen und durch den Gebrauch vermehren, durch Nichtgebrauch vermindern, durch Mißbrauch verlieren kann — aber nie kann ich — mit dieſem beſtimmten Maaß von Kraft das ausrichten, was ſich mit einem doppelten eben ſo angewandten Maaße ausrich- ten ließe — Fleiß kann dem Talente, das nicht fleißig iſt, und Talent dem Genie, das keine Gele- genheit und Uebung hat ſich zu entwickeln — ſehr nahe kommen, oder vielmehr nahe zu kommen ſchei- nen — aber nie kann Fleiß Untalent zum Talent, oder Genie machen. Jeder muß bleiben, wer er iſt. Er kann ſich nur auf einen gewiſſen Grad vervollkommnen, ausbreiten, entwickeln. Jeder iſt Fuͤrſt — und Souverain, aber nur in ſeinem großen oder kleinen Fuͤrſtenthume. Er kanns an- bauen, daß es ſo viel Ertrag giebt, als ein noch einmal ſo großes, das nicht angebaut wird. Aber ſein Fuͤrſtenthum kann er nicht erweitern, bis der Herr ihm ſeines Nachbars unangebautes Fuͤrſten- thum ſchenkt, wenn das ſeinige ganz angebaut iſt. Dieſer Glaube an dieſe Freyheit und Nichtfreyheit des Menſchen — iſt’s, der jeden demuͤthig und muthig, beſcheiden und wirkſam machen kann. Bis hieher
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II. Abſchnitt. II. Fragment.
kann nur, was er kann, und iſt, was er iſt. Er kann nur auf einen gewiſſen Grad ſteigen — und
weiter nicht, und wenn man ihn mit der Unbarmherzigkeit eines ergrimmten Scharfrichters auf den
Tod geißelte. Jeder Menſch ſoll nach ſich ſelbſt gemeſſen werden: Was kann er, als er? Er in den
Umſtaͤnden, in denen er iſt? — Nicht, was koͤnnte ich in ſeiner Lage? O Menſchen! Bruͤder! Ei-
nes Vaters Kinder, wann wollt ihr einander billig beurtheilen? wann aufhoͤren, vom Empfinder
Abſtraktionen des kalten Denkers, vom kalten Denker warme Empfindungen zu fordern? zu erzwin-
gen? wann vom Apfelbaum keine Birnen, vom Weinſtock keine Aepfel mehr verlangen? — Der
Menſch iſt Menſch, und kann nicht Engel ſeyn, wenn er’s auch wuͤnſcht. Und ſo iſt jeder Menſch
ein eigen Jch und Selbſt, und kann ſo wenig ein anderes Selbſt werden, als ein Engel ... Z. E.
ich kann nie zu dem unerſchrockenen Muth eines Carls des XII. nie zur planmachenden Weisheit
eines Heideggers, nie zur algebraiſchen Fazilitaͤt eines Eulers — nie zum klaſſifizirenden Genie
eines Linneus gebildet werden, ſo lange meine Stirn und meine Naſe ſo luftig, locker, unknoͤchern
und ſo — umriſſen iſt, wie ſie iſt. — Jn meinem Bezirke bin ich frey. Jn meinem Kreiſe kann ich
wirken wie ich will. Wenn ich ein Pfund empfangen habe, ſo kann ich nicht wirken, wie der, ſo
zwey empfangen hat. Aber dieß Eine kann ich gut oder uͤbel anwenden. Ein gewiſſes Maaß von
Kraft iſt mir gegeben, das ich gebrauchen und durch den Gebrauch vermehren, durch Nichtgebrauch
vermindern, durch Mißbrauch verlieren kann — aber nie kann ich — mit dieſem beſtimmten
Maaß von Kraft das ausrichten, was ſich mit einem doppelten eben ſo angewandten Maaße ausrich-
ten ließe — Fleiß kann dem Talente, das nicht fleißig iſt, und Talent dem Genie, das keine Gele-
genheit und Uebung hat ſich zu entwickeln — ſehr nahe kommen, oder vielmehr nahe zu kommen ſchei-
nen — aber nie kann Fleiß Untalent zum Talent, oder Genie machen. Jeder muß bleiben, wer
er iſt. Er kann ſich nur auf einen gewiſſen Grad vervollkommnen, ausbreiten, entwickeln. Jeder
iſt Fuͤrſt — und Souverain, aber nur in ſeinem großen oder kleinen Fuͤrſtenthume. Er kanns an-
bauen, daß es ſo viel Ertrag giebt, als ein noch einmal ſo großes, das nicht angebaut wird. Aber
ſein Fuͤrſtenthum kann er nicht erweitern, bis der Herr ihm ſeines Nachbars unangebautes Fuͤrſten-
thum ſchenkt, wenn das ſeinige ganz angebaut iſt. Dieſer Glaube an dieſe Freyheit und Nichtfreyheit
des Menſchen — iſt’s, der jeden demuͤthig und muthig, beſcheiden und wirkſam machen kann. Bis
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