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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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II. Abschnitt. III. Fragment.
daß wir klare Zeichen dieses Drohens sehen! Nicht, daß wir der Leidenschaft sogleich ihren eignen
Namen müssen geben können -- aber unsere Nerven werden von diesen Zügen auf eine ähnliche
Weise affizirt, wie durch die bewegte Leidenschaft selbst. Auch muß es eben nicht Erinnerung an
den Effekt einer solchen in Bewegung gesetzten Leidenschaft seyn, die uns diese Abneigung einflößt.
Das Kind und das Thier hat sie mit dem Räsonnirer und Abstrahirer gemein. Es liegt in der
Natur. Solche Züge an sich reizen und drücken organische Wesen physisch und unmittelbar. Es
ist nicht Räsonnement, nicht Furcht vor irgend einer folgenden übeln Wirkung, daß unsern Oh-
ren das Sägen der Kreide, unserm Geruch Assa Fötida unerträglich ist. Natürlich und un-
mittelbar ziehen sich beym Hören und Riechen dieser Dinge unsere Geruch- und Gehörnerven auf
eine uns unangenehme Weise zusammen. Die Erinnerung von der Wirkung dieser bewegten oder
ruhenden Leidenschaften kömmt freylich gemeiniglich hinzu; aber auch ohne diese Aus- oder Rück-
sicht -- an sich schon und vor und ohne alle dem ist der bloße Eindruck physisch angenehm,
physisch unangenehm -- wie bey einem schönen oder häßlichen Gemählde, einer harmonischen oder
disharmonischen Musik. Jch habe, meines Wissens, noch kein Gesicht gesehen, das dem nach-
stehenden des Pulvererfinders, oder wenn man will, Nichterfinders, Brechthold Schwarzen
ähnlich sähe ... Solche Gesichter sind in der That so selten -- als: "Barfüßer, die große
"Künstler sind der heimlichen Kunst, der Alchymie und dergleichen mehr, die Geister zwingen und
"bannen können" -- wie die Nachrichten von Schwarzen sagen. Doch Scherz beyseite! die
wenigsten meiner Leser werden viel ähnliche Gesichter gesehen haben? Woher kömmt es nun
aber, daß wohl schwerlich einer von uns allen diesem Gesichte, wenn man auch seinen Namen
nicht weiß, gut seyn wird? -- Nicht von stiller, schneller, unmerklicher Vergleichung seiner Zü-
ge mit andern, die uns etwa einmal Schaden zufügten -- denn wir setzten voraus, daß wir
kein ähnliches Gesicht gesehen haben? Woher also? Es muß in der allgemeinen Organisation
der Menschheit liegen, ein solches Gesicht nicht annehmen zu können. So ein Mund bey die-
sen Augenbraunen, dieser Falte zwischen den Augenbraunen respuirt alle Vertraulichkeit -- Er
läßt uns Joabs Dolch vermuthen.

Jch

II. Abſchnitt. III. Fragment.
daß wir klare Zeichen dieſes Drohens ſehen! Nicht, daß wir der Leidenſchaft ſogleich ihren eignen
Namen muͤſſen geben koͤnnen — aber unſere Nerven werden von dieſen Zuͤgen auf eine aͤhnliche
Weiſe affizirt, wie durch die bewegte Leidenſchaft ſelbſt. Auch muß es eben nicht Erinnerung an
den Effekt einer ſolchen in Bewegung geſetzten Leidenſchaft ſeyn, die uns dieſe Abneigung einfloͤßt.
Das Kind und das Thier hat ſie mit dem Raͤſonnirer und Abſtrahirer gemein. Es liegt in der
Natur. Solche Zuͤge an ſich reizen und druͤcken organiſche Weſen phyſiſch und unmittelbar. Es
iſt nicht Raͤſonnement, nicht Furcht vor irgend einer folgenden uͤbeln Wirkung, daß unſern Oh-
ren das Saͤgen der Kreide, unſerm Geruch Aſſa Foͤtida unertraͤglich iſt. Natuͤrlich und un-
mittelbar ziehen ſich beym Hoͤren und Riechen dieſer Dinge unſere Geruch- und Gehoͤrnerven auf
eine uns unangenehme Weiſe zuſammen. Die Erinnerung von der Wirkung dieſer bewegten oder
ruhenden Leidenſchaften koͤmmt freylich gemeiniglich hinzu; aber auch ohne dieſe Aus- oder Ruͤck-
ſicht — an ſich ſchon und vor und ohne alle dem iſt der bloße Eindruck phyſiſch angenehm,
phyſiſch unangenehm — wie bey einem ſchoͤnen oder haͤßlichen Gemaͤhlde, einer harmoniſchen oder
disharmoniſchen Muſik. Jch habe, meines Wiſſens, noch kein Geſicht geſehen, das dem nach-
ſtehenden des Pulvererfinders, oder wenn man will, Nichterfinders, Brechthold Schwarzen
aͤhnlich ſaͤhe ... Solche Geſichter ſind in der That ſo ſelten — als: „Barfuͤßer, die große
„Kuͤnſtler ſind der heimlichen Kunſt, der Alchymie und dergleichen mehr, die Geiſter zwingen und
„bannen koͤnnen“ — wie die Nachrichten von Schwarzen ſagen. Doch Scherz beyſeite! die
wenigſten meiner Leſer werden viel aͤhnliche Geſichter geſehen haben? Woher koͤmmt es nun
aber, daß wohl ſchwerlich einer von uns allen dieſem Geſichte, wenn man auch ſeinen Namen
nicht weiß, gut ſeyn wird? — Nicht von ſtiller, ſchneller, unmerklicher Vergleichung ſeiner Zuͤ-
ge mit andern, die uns etwa einmal Schaden zufuͤgten — denn wir ſetzten voraus, daß wir
kein aͤhnliches Geſicht geſehen haben? Woher alſo? Es muß in der allgemeinen Organiſation
der Menſchheit liegen, ein ſolches Geſicht nicht annehmen zu koͤnnen. So ein Mund bey die-
ſen Augenbraunen, dieſer Falte zwiſchen den Augenbraunen reſpuirt alle Vertraulichkeit — Er
laͤßt uns Joabs Dolch vermuthen.

Jch
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[122/0150] II. Abſchnitt. III. Fragment. daß wir klare Zeichen dieſes Drohens ſehen! Nicht, daß wir der Leidenſchaft ſogleich ihren eignen Namen muͤſſen geben koͤnnen — aber unſere Nerven werden von dieſen Zuͤgen auf eine aͤhnliche Weiſe affizirt, wie durch die bewegte Leidenſchaft ſelbſt. Auch muß es eben nicht Erinnerung an den Effekt einer ſolchen in Bewegung geſetzten Leidenſchaft ſeyn, die uns dieſe Abneigung einfloͤßt. Das Kind und das Thier hat ſie mit dem Raͤſonnirer und Abſtrahirer gemein. Es liegt in der Natur. Solche Zuͤge an ſich reizen und druͤcken organiſche Weſen phyſiſch und unmittelbar. Es iſt nicht Raͤſonnement, nicht Furcht vor irgend einer folgenden uͤbeln Wirkung, daß unſern Oh- ren das Saͤgen der Kreide, unſerm Geruch Aſſa Foͤtida unertraͤglich iſt. Natuͤrlich und un- mittelbar ziehen ſich beym Hoͤren und Riechen dieſer Dinge unſere Geruch- und Gehoͤrnerven auf eine uns unangenehme Weiſe zuſammen. Die Erinnerung von der Wirkung dieſer bewegten oder ruhenden Leidenſchaften koͤmmt freylich gemeiniglich hinzu; aber auch ohne dieſe Aus- oder Ruͤck- ſicht — an ſich ſchon und vor und ohne alle dem iſt der bloße Eindruck phyſiſch angenehm, phyſiſch unangenehm — wie bey einem ſchoͤnen oder haͤßlichen Gemaͤhlde, einer harmoniſchen oder disharmoniſchen Muſik. Jch habe, meines Wiſſens, noch kein Geſicht geſehen, das dem nach- ſtehenden des Pulvererfinders, oder wenn man will, Nichterfinders, Brechthold Schwarzen aͤhnlich ſaͤhe ... Solche Geſichter ſind in der That ſo ſelten — als: „Barfuͤßer, die große „Kuͤnſtler ſind der heimlichen Kunſt, der Alchymie und dergleichen mehr, die Geiſter zwingen und „bannen koͤnnen“ — wie die Nachrichten von Schwarzen ſagen. Doch Scherz beyſeite! die wenigſten meiner Leſer werden viel aͤhnliche Geſichter geſehen haben? Woher koͤmmt es nun aber, daß wohl ſchwerlich einer von uns allen dieſem Geſichte, wenn man auch ſeinen Namen nicht weiß, gut ſeyn wird? — Nicht von ſtiller, ſchneller, unmerklicher Vergleichung ſeiner Zuͤ- ge mit andern, die uns etwa einmal Schaden zufuͤgten — denn wir ſetzten voraus, daß wir kein aͤhnliches Geſicht geſehen haben? Woher alſo? Es muß in der allgemeinen Organiſation der Menſchheit liegen, ein ſolches Geſicht nicht annehmen zu koͤnnen. So ein Mund bey die- ſen Augenbraunen, dieſer Falte zwiſchen den Augenbraunen reſpuirt alle Vertraulichkeit — Er laͤßt uns Joabs Dolch vermuthen. Jch

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/150>, abgerufen am 22.11.2024.