eines nach dem andern heraus; exzerpire dir gewisse Züge -- dann lege sie wieder ins ganze Mus- kelngewebe hinein -- um den Zusammenhang und die Spielung des Ganzen zu bemerken.
Und sogleich hernach suche dir eine Gesellschaft von weisen, gesund denkenden, tiefdenkenden Menschen aus -- und gehe eben so zu Werke.
Wenn du nicht Zeit, nicht Gelegenheit, nicht Standpunkt hast, ein ganzes Gesicht zu er- greifen, und von allen Seiten auswendig zu lernen, so ergreife wenigstens zwo Linien aus dem Gesichte -- wenn du diese hast, hast du den Charakter des Gesichtes -- das heißt, du hast den Schlüssel zum Charakter des Gesichtes -- Die Mittellinie des Mundes, wenn er geschlossen ist vornehmlich -- und neben ein, wenn er sich ein wenig öffnet: Und die Linie, die das obere Au- genlied auf dem Augapfel beschreibt. Diese verstehen, heißt das menschliche Gesicht verstehen. Mittelst dieser zwey Lineamente, ich behaupte es kühn, ist es möglich, ist es leicht, den Geistes- und Herzenscharakter eines jeden Menschen zu deschifriren. -- Wohl verstanden -- nicht mir! aber -- dem, der mehr Zeit und Gabe hat zu beobachten, als ich. Alle Gesichter, deren Charakter ich zu kennen glaube -- kann ich durch diese zween Züge kennen. Zwey Lineamente übrigens, die selbst von den größten Naturmahlern vernachläßigt werden -- obgleich der ganze Geist der Aehnlichkeit darauf beruht. Wo sie in irgend ein Lineament Manier hineinbringen, bringen sie's in diese zwey hinein. An diesen zween Zügen läßt sich auch leicht entdecken, ob der Meister ächter Physiognomist ist oder nicht. Da aber gerade diese zwo Linien so beweglich oder so fein bogigt sind, daß es ein äus- serst geübtes Auge erfordert, sie rein herauszublicken -- da außer dem dieß im Geist nachzeich- nendeHerausblicken besonders der Augenlinien in den Blick des andern so tief einschneidend ist; so muß ich mich sehr oft nur mit dem Profile behelfen; welches vom Auge leichter aufzufassen ist, als vom Munde. Wo aber auch das nicht hinreicht; so fasse ich mir, wo immer möglich, noch die zween Uebergänge; den von der Stirne zur Nase, und den von der Nase zum Munde auf. Diese zwey beynahe festen und unveränderlichen Fragmente des Profils zeichne ich in Gedanken nach, um sie nachher wirklich durch die Zeichnung fixiren zu können.
Genaue Untersuchung und häufige Vergleichung dieser zween beweglichen und unbeweglichen Züge wird lehren, daß sie, wie überhaupt alle Züge des Gesichtes -- das unmittelbarste Verhält- niß zu einander haben -- so daß immer einer den andern voraussetzt und mit sich führt; so daß man
nach
II. Abſchnitt. V. Fragment.
eines nach dem andern heraus; exzerpire dir gewiſſe Zuͤge — dann lege ſie wieder ins ganze Mus- kelngewebe hinein — um den Zuſammenhang und die Spielung des Ganzen zu bemerken.
Und ſogleich hernach ſuche dir eine Geſellſchaft von weiſen, geſund denkenden, tiefdenkenden Menſchen aus — und gehe eben ſo zu Werke.
Wenn du nicht Zeit, nicht Gelegenheit, nicht Standpunkt haſt, ein ganzes Geſicht zu er- greifen, und von allen Seiten auswendig zu lernen, ſo ergreife wenigſtens zwo Linien aus dem Geſichte — wenn du dieſe haſt, haſt du den Charakter des Geſichtes — das heißt, du haſt den Schluͤſſel zum Charakter des Geſichtes — Die Mittellinie des Mundes, wenn er geſchloſſen iſt vornehmlich — und neben ein, wenn er ſich ein wenig oͤffnet: Und die Linie, die das obere Au- genlied auf dem Augapfel beſchreibt. Dieſe verſtehen, heißt das menſchliche Geſicht verſtehen. Mittelſt dieſer zwey Lineamente, ich behaupte es kuͤhn, iſt es moͤglich, iſt es leicht, den Geiſtes- und Herzenscharakter eines jeden Menſchen zu deſchifriren. — Wohl verſtanden — nicht mir! aber — dem, der mehr Zeit und Gabe hat zu beobachten, als ich. Alle Geſichter, deren Charakter ich zu kennen glaube — kann ich durch dieſe zween Zuͤge kennen. Zwey Lineamente uͤbrigens, die ſelbſt von den groͤßten Naturmahlern vernachlaͤßigt werden — obgleich der ganze Geiſt der Aehnlichkeit darauf beruht. Wo ſie in irgend ein Lineament Manier hineinbringen, bringen ſie’s in dieſe zwey hinein. An dieſen zween Zuͤgen laͤßt ſich auch leicht entdecken, ob der Meiſter aͤchter Phyſiognomiſt iſt oder nicht. Da aber gerade dieſe zwo Linien ſo beweglich oder ſo fein bogigt ſind, daß es ein aͤuſ- ſerſt geuͤbtes Auge erfordert, ſie rein herauszublicken — da außer dem dieß im Geiſt nachzeich- nendeHerausblicken beſonders der Augenlinien in den Blick des andern ſo tief einſchneidend iſt; ſo muß ich mich ſehr oft nur mit dem Profile behelfen; welches vom Auge leichter aufzufaſſen iſt, als vom Munde. Wo aber auch das nicht hinreicht; ſo faſſe ich mir, wo immer moͤglich, noch die zween Uebergaͤnge; den von der Stirne zur Naſe, und den von der Naſe zum Munde auf. Dieſe zwey beynahe feſten und unveraͤnderlichen Fragmente des Profils zeichne ich in Gedanken nach, um ſie nachher wirklich durch die Zeichnung fixiren zu koͤnnen.
Genaue Unterſuchung und haͤufige Vergleichung dieſer zween beweglichen und unbeweglichen Zuͤge wird lehren, daß ſie, wie uͤberhaupt alle Zuͤge des Geſichtes — das unmittelbarſte Verhaͤlt- niß zu einander haben — ſo daß immer einer den andern vorausſetzt und mit ſich fuͤhrt; ſo daß man
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II. Abſchnitt. V. Fragment.
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kelngewebe hinein — um den Zuſammenhang und die Spielung des Ganzen zu bemerken.
Und ſogleich hernach ſuche dir eine Geſellſchaft von weiſen, geſund denkenden, tiefdenkenden
Menſchen aus — und gehe eben ſo zu Werke.
Wenn du nicht Zeit, nicht Gelegenheit, nicht Standpunkt haſt, ein ganzes Geſicht zu er-
greifen, und von allen Seiten auswendig zu lernen, ſo ergreife wenigſtens zwo Linien aus dem
Geſichte — wenn du dieſe haſt, haſt du den Charakter des Geſichtes — das heißt, du haſt den
Schluͤſſel zum Charakter des Geſichtes — Die Mittellinie des Mundes, wenn er geſchloſſen iſt
vornehmlich — und neben ein, wenn er ſich ein wenig oͤffnet: Und die Linie, die das obere Au-
genlied auf dem Augapfel beſchreibt. Dieſe verſtehen, heißt das menſchliche Geſicht verſtehen.
Mittelſt dieſer zwey Lineamente, ich behaupte es kuͤhn, iſt es moͤglich, iſt es leicht, den Geiſtes- und
Herzenscharakter eines jeden Menſchen zu deſchifriren. — Wohl verſtanden — nicht mir! aber —
dem, der mehr Zeit und Gabe hat zu beobachten, als ich. Alle Geſichter, deren Charakter ich zu
kennen glaube — kann ich durch dieſe zween Zuͤge kennen. Zwey Lineamente uͤbrigens, die ſelbſt
von den groͤßten Naturmahlern vernachlaͤßigt werden — obgleich der ganze Geiſt der Aehnlichkeit
darauf beruht. Wo ſie in irgend ein Lineament Manier hineinbringen, bringen ſie’s in dieſe zwey
hinein. An dieſen zween Zuͤgen laͤßt ſich auch leicht entdecken, ob der Meiſter aͤchter Phyſiognomiſt
iſt oder nicht. Da aber gerade dieſe zwo Linien ſo beweglich oder ſo fein bogigt ſind, daß es ein aͤuſ-
ſerſt geuͤbtes Auge erfordert, ſie rein herauszublicken — da außer dem dieß im Geiſt nachzeich-
nende Herausblicken beſonders der Augenlinien in den Blick des andern ſo tief einſchneidend
iſt; ſo muß ich mich ſehr oft nur mit dem Profile behelfen; welches vom Auge leichter aufzufaſſen
iſt, als vom Munde. Wo aber auch das nicht hinreicht; ſo faſſe ich mir, wo immer moͤglich, noch
die zween Uebergaͤnge; den von der Stirne zur Naſe, und den von der Naſe zum Munde auf.
Dieſe zwey beynahe feſten und unveraͤnderlichen Fragmente des Profils zeichne ich in Gedanken
nach, um ſie nachher wirklich durch die Zeichnung fixiren zu koͤnnen.
Genaue Unterſuchung und haͤufige Vergleichung dieſer zween beweglichen und unbeweglichen
Zuͤge wird lehren, daß ſie, wie uͤberhaupt alle Zuͤge des Geſichtes — das unmittelbarſte Verhaͤlt-
niß zu einander haben — ſo daß immer einer den andern vorausſetzt und mit ſich fuͤhrt; ſo daß man
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/178>, abgerufen am 21.11.2024.
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