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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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II. Abschnitt. VI. Fragment.
vorkommenden Menschen nur von Einer Seite genau zu prüfen, wiederholt zu prüfen, um
die besondere Art dessen, was ihr finden wollt, die besondere Art des Verstandes, Gedächt-
nisses, der Güte u. s. w. durch Vergleichung mit vielen eurer Bekannten genauer bestimmen
zu lernen. Ohne diese Uebung werdet ihr immer unbestimmt schreiben, und unbestimmt ver-
standen werden; und auf Bestimmtheit kömmt wahrlich das meiste an.

Leset, um euch in dieser Fertigkeit, feine Unterschiede zu bezeichnen, zu üben -- die
Schriften eines Girards, Locke, Mendelssohns, Sulzers, Wolfens, und besonders
Alex. Gottlieb Baumgartens. Und um das Mahlerische des Ausdruckes euch leichter zu
machen, leset die Schriften der besten Mahler und mahlerischen Kunstrichter, die physiognomi-
schen Dichter und Dramatisten! Shakespear, Winkelmann, Göthe, Wieland, Heinse,
Jakobi,
(in Allwills Papieren). Lessing, Herder -- sind unter andern die Schriftsteller, in
denen ich viel physiognomische Sprache finde.

Prüft alles, was ihr schreibt, beym Vorlesen, ob es sogleich verstanden, sogleich ge-
fühlt werde? ob alles frey und unwegprellend aus eurer Seele in die Seele des Schauers, Le-
sers, Hörers überfließe? aus ihren Mienen lebendig zurückschalle? ob es euch noch wahr, und
noch wahrer vorkomme während und nach dem Lesen, wie beym Schreiben?

Bleibt immer dabey fest, nur das sehen zu lassen, was ihr selbst gewiß sehet, und
oft gesehen habt. Wisset vorher genau, was ihr schreiben wollt! Denkt euch bey dem ersten
Schreiben den gelassensten Forscher und Freund der Wahrheit; und beym zweyten den
schärfsten, listigsten, schalkhaftesten, beredtesten Gegner der Physiognomik, bereit wie ein Dra-
che, alle eure Behauptungen zu verschlingen. Aber auch nur als gegenwärtig mußt du dir,
Mitarbeiter an Physiognomik, den Drachen denken; als mündlichen Bestreiter, mündlichen
Chikaneur -- wie weit könnte seine angesichtliche Jmpertinenz, wenn sie aufs höchste steigen
wollte, steigen? -- Diesem Grade baue vor! diese Stimme mache verstummen. Mehr
ist von keinem Menschen zu fordern. Christusweisheit könnte nur die gegenwärtigen So-
phisten verstummen machen -- die Abwesenden nicht. Diese haben immer gut Spiel, wenn
sie schreiben; einerseits: Epistola non erubescit -- und anderseits -- den Pöbel ununter-
suchender Lacher immer auf ihrer Seite. Vor nichts mehr hüte dich, als jemals für diese

schreiben

II. Abſchnitt. VI. Fragment.
vorkommenden Menſchen nur von Einer Seite genau zu pruͤfen, wiederholt zu pruͤfen, um
die beſondere Art deſſen, was ihr finden wollt, die beſondere Art des Verſtandes, Gedaͤcht-
niſſes, der Guͤte u. ſ. w. durch Vergleichung mit vielen eurer Bekannten genauer beſtimmen
zu lernen. Ohne dieſe Uebung werdet ihr immer unbeſtimmt ſchreiben, und unbeſtimmt ver-
ſtanden werden; und auf Beſtimmtheit koͤmmt wahrlich das meiſte an.

Leſet, um euch in dieſer Fertigkeit, feine Unterſchiede zu bezeichnen, zu uͤben — die
Schriften eines Girards, Locke, Mendelsſohns, Sulzers, Wolfens, und beſonders
Alex. Gottlieb Baumgartens. Und um das Mahleriſche des Ausdruckes euch leichter zu
machen, leſet die Schriften der beſten Mahler und mahleriſchen Kunſtrichter, die phyſiognomi-
ſchen Dichter und Dramatiſten! Shakeſpear, Winkelmann, Goͤthe, Wieland, Heinſe,
Jakobi,
(in Allwills Papieren). Leſſing, Herder — ſind unter andern die Schriftſteller, in
denen ich viel phyſiognomiſche Sprache finde.

Pruͤft alles, was ihr ſchreibt, beym Vorleſen, ob es ſogleich verſtanden, ſogleich ge-
fuͤhlt werde? ob alles frey und unwegprellend aus eurer Seele in die Seele des Schauers, Le-
ſers, Hoͤrers uͤberfließe? aus ihren Mienen lebendig zuruͤckſchalle? ob es euch noch wahr, und
noch wahrer vorkomme waͤhrend und nach dem Leſen, wie beym Schreiben?

Bleibt immer dabey feſt, nur das ſehen zu laſſen, was ihr ſelbſt gewiß ſehet, und
oft geſehen habt. Wiſſet vorher genau, was ihr ſchreiben wollt! Denkt euch bey dem erſten
Schreiben den gelaſſenſten Forſcher und Freund der Wahrheit; und beym zweyten den
ſchaͤrfſten, liſtigſten, ſchalkhafteſten, beredteſten Gegner der Phyſiognomik, bereit wie ein Dra-
che, alle eure Behauptungen zu verſchlingen. Aber auch nur als gegenwaͤrtig mußt du dir,
Mitarbeiter an Phyſiognomik, den Drachen denken; als muͤndlichen Beſtreiter, muͤndlichen
Chikaneur — wie weit koͤnnte ſeine angeſichtliche Jmpertinenz, wenn ſie aufs hoͤchſte ſteigen
wollte, ſteigen? — Dieſem Grade baue vor! dieſe Stimme mache verſtummen. Mehr
iſt von keinem Menſchen zu fordern. Chriſtusweisheit koͤnnte nur die gegenwaͤrtigen So-
phiſten verſtummen machen — die Abweſenden nicht. Dieſe haben immer gut Spiel, wenn
ſie ſchreiben; einerſeits: Epiſtola non erubeſcit — und anderſeits — den Poͤbel ununter-
ſuchender Lacher immer auf ihrer Seite. Vor nichts mehr huͤte dich, als jemals fuͤr dieſe

ſchreiben
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[164/0194] II. Abſchnitt. VI. Fragment. vorkommenden Menſchen nur von Einer Seite genau zu pruͤfen, wiederholt zu pruͤfen, um die beſondere Art deſſen, was ihr finden wollt, die beſondere Art des Verſtandes, Gedaͤcht- niſſes, der Guͤte u. ſ. w. durch Vergleichung mit vielen eurer Bekannten genauer beſtimmen zu lernen. Ohne dieſe Uebung werdet ihr immer unbeſtimmt ſchreiben, und unbeſtimmt ver- ſtanden werden; und auf Beſtimmtheit koͤmmt wahrlich das meiſte an. Leſet, um euch in dieſer Fertigkeit, feine Unterſchiede zu bezeichnen, zu uͤben — die Schriften eines Girards, Locke, Mendelsſohns, Sulzers, Wolfens, und beſonders Alex. Gottlieb Baumgartens. Und um das Mahleriſche des Ausdruckes euch leichter zu machen, leſet die Schriften der beſten Mahler und mahleriſchen Kunſtrichter, die phyſiognomi- ſchen Dichter und Dramatiſten! Shakeſpear, Winkelmann, Goͤthe, Wieland, Heinſe, Jakobi, (in Allwills Papieren). Leſſing, Herder — ſind unter andern die Schriftſteller, in denen ich viel phyſiognomiſche Sprache finde. Pruͤft alles, was ihr ſchreibt, beym Vorleſen, ob es ſogleich verſtanden, ſogleich ge- fuͤhlt werde? ob alles frey und unwegprellend aus eurer Seele in die Seele des Schauers, Le- ſers, Hoͤrers uͤberfließe? aus ihren Mienen lebendig zuruͤckſchalle? ob es euch noch wahr, und noch wahrer vorkomme waͤhrend und nach dem Leſen, wie beym Schreiben? Bleibt immer dabey feſt, nur das ſehen zu laſſen, was ihr ſelbſt gewiß ſehet, und oft geſehen habt. Wiſſet vorher genau, was ihr ſchreiben wollt! Denkt euch bey dem erſten Schreiben den gelaſſenſten Forſcher und Freund der Wahrheit; und beym zweyten den ſchaͤrfſten, liſtigſten, ſchalkhafteſten, beredteſten Gegner der Phyſiognomik, bereit wie ein Dra- che, alle eure Behauptungen zu verſchlingen. Aber auch nur als gegenwaͤrtig mußt du dir, Mitarbeiter an Phyſiognomik, den Drachen denken; als muͤndlichen Beſtreiter, muͤndlichen Chikaneur — wie weit koͤnnte ſeine angeſichtliche Jmpertinenz, wenn ſie aufs hoͤchſte ſteigen wollte, ſteigen? — Dieſem Grade baue vor! dieſe Stimme mache verſtummen. Mehr iſt von keinem Menſchen zu fordern. Chriſtusweisheit koͤnnte nur die gegenwaͤrtigen So- phiſten verſtummen machen — die Abweſenden nicht. Dieſe haben immer gut Spiel, wenn ſie ſchreiben; einerſeits: Epiſtola non erubeſcit — und anderſeits — den Poͤbel ununter- ſuchender Lacher immer auf ihrer Seite. Vor nichts mehr huͤte dich, als jemals fuͤr dieſe ſchreiben

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/194>, abgerufen am 21.11.2024.