Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.I. Abschnitt. I. Fragment. "Ueber Physiognomik." "Gewiß (sagt unser Verfasser) hat die Zollfreyheit unserer Gedanken, und der geheimsten Mich dünkt, gerade beym Eintritt wird ein unrichtiger Gesichtspunkt angenommen -- der Niemand mehr, als ich, würde über den Stolz eines Physiognomisten lachen, der sich an- Uebrigens gehören, wie ich denke, die geheimsten Regungen des Herzens in die Pa- Sehr nöthig ist die Erinnerung des Verfassers (Seite 2.) "den Unterricht in der Physiog- "Ob die Physiognomik überhaupt, auch in ihrer größten Vollkommenheit, Menschen- Physiogno-
I. Abſchnitt. I. Fragment. „Ueber Phyſiognomik.“ „Gewiß (ſagt unſer Verfaſſer) hat die Zollfreyheit unſerer Gedanken, und der geheimſten Mich duͤnkt, gerade beym Eintritt wird ein unrichtiger Geſichtspunkt angenommen — der Niemand mehr, als ich, wuͤrde uͤber den Stolz eines Phyſiognomiſten lachen, der ſich an- Uebrigens gehoͤren, wie ich denke, die geheimſten Regungen des Herzens in die Pa- Sehr noͤthig iſt die Erinnerung des Verfaſſers (Seite 2.) „den Unterricht in der Phyſiog- „Ob die Phyſiognomik uͤberhaupt, auch in ihrer groͤßten Vollkommenheit, Menſchen- Phyſiogno-
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I. Abſchnitt. I. Fragment.
„Ueber Phyſiognomik.“
„Gewiß (ſagt unſer Verfaſſer) hat die Zollfreyheit unſerer Gedanken, und der geheimſten
„Regungen unſers Herzens bey uns nie auf ſchwaͤchern Fuͤßen geſtanden, als itzt.“
Mich duͤnkt, gerade beym Eintritt wird ein unrichtiger Geſichtspunkt angenommen — der
vielleicht Verfaſſer und Leſer durch die ganze Abhandlung irre fuͤhren duͤrfte ... Jch wenigſtens
weiß nichts von dem geringſten Eingriffe in die Zollfreyheit der menſchlichen Gedanken und der
geheimſten Regungen des Herzens — und meine Bemuͤhungen gehen bekanntermaßen offen-
bar weniger auf das, als auf die Kenntniß des Hauptcharakters, der Faͤhigkeiten, Talente,
Fertigkeiten, Kraͤfte, Empfaͤnglichkeit, Anlagen, Wirkſamkeit, Genie, Religioſitaͤt,
Empfindſamkeit, Reizbarkeit, Elaſtizitaͤt eines jeden Menſchen uͤberhaupt — nicht auf die
geheimſten ſeiner aktuellen Gedanken — Meinethalben alſo mag und kann, wie unſer witzige Ver-
faſſer weiter ſagt, „die Seele uͤber ihrem geheimſten Schatze, noch itzt ſo unzukommlich ſicher
„liegen, als vor Jahrtauſenden. Ruhig kann ſie uͤber alle anwachſende babyloniſche Werke aller
„ſtolzen Stuͤrmer laͤcheln, uͤberzeugt, daß ſich lange vor ihrer Vollendung die Sprachen der Arbei-
„ter verwirren und Meiſter und Geſellen aus einander gehen werden.“
Niemand mehr, als ich, wuͤrde uͤber den Stolz eines Phyſiognomiſten lachen, der ſich an-
maßen wollte, die jedesmaligen geheimſten Gedanken und Regungen der Seele in dem Geſichte zu
leſen, ob es gleich Faͤlle geben kann, wo ſie auch einem ungeuͤbten Phyſiognomiſten lesbar ſind.
Uebrigens gehoͤren, wie ich denke, die geheimſten Regungen des Herzens in die Pa-
thognomik, fuͤr die ich viel weniger arbeite, als fuͤr die Phyſiognomik, und die, wie der Ver-
faſſer mehr witzig, als wahr — ſagt, „ſo unnoͤthig waͤre zu ſchreiben, als eine Kunſt zu lieben.“
Sehr noͤthig iſt die Erinnerung des Verfaſſers (Seite 2.) „den Unterricht in der Phyſiog-
„nomik an den bekannten Orten mit Behutſamkeit und ſelbſt mit Mistrauen zu ſuchen.“
„Ob die Phyſiognomik uͤberhaupt, auch in ihrer groͤßten Vollkommenheit, Menſchen-
„liebe befoͤrdern werde, (Seite 2.) iſt wenigſtens ungewiß“ — und ich ſage ſchlechtweg — ge-
wiß — und ich hoffe, in ein Paar Minuten wird es der redliche, menſchenfreundliche Verfaſſer
mit mir ſagen.
Phyſiogno-
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