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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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III. Abschnitt. IV. Fragment.
Viertes Fragment.
Stellen aus Maximus Tyrius.
*)
1.

Da die Seele des Menschen Gott am nächsten ähnlich ist, so war es ja nicht billig, daß Gott das ihm
ähnlichste mit einem ungeschickten Gehäuse umkleiden sollte; sondern mit einem Körper, der einer unsterblichen
Seele am angemessensten wäre, und der sich geschickt bewegen könnte. Diese eine Art von lebenden Körpern
auf Erden richtet sich gerade gegen den Himmel in die Höhe; er ist prächtig und stolz, und nach dem besten
Ebenmaße aller seiner Theile eingerichtet. Er schreckt nicht durch seine Größe; er ist nicht fürchterlich wegen
seiner Stärke; er ist nicht wegen seiner Schwere unbehülflich, oder wegen seiner Leichtigkeit zu fallen geneigt.
Er ist nicht hart anzufühlen; er schleichet nicht wegen kalter Säfte. Er springt nicht wegen seiner Hitze; er
schwimmt nicht von selbsten wegen Mangel der Dichtigkeit. Er frißt nicht aus Wildigkeit rohes Fleisch; er
srißt auch nicht Gras wie ein Vieh; sondern er ist recht zusammenstimmend gebaut zu seinen Verrichtungen.
Er ist furchtbar den Bösen, zahm und freundlich den Guten. Er geht von Natur auf der Erde. Er fliegt
mit dem Verstande: Er schwimmt durch Kunst. Er genießt Getraide; er bearbeitet die Erde; er ißt die Früch-
te; er ist von guter Farbe, standhaften Gliedmaßen, schönem Angesichte und zierlichem Barte. Jn Nach-
bildungen eines solchen Körpers die Götter zu verehren, haben die Griechen gut gefunden.

O daß ich doch Stimme genug hätte, und Glauben genug fände -- tief genug jedem mei-
ner Leser zu bezeugen, welche unaussprechliche Verwunderung über die unvergleichbare Wunderna-
tur des menschlichen Körpers meine Seele so oft über sich selber zu erheben scheint! O daß doch alle
Sprachen der Erde treffende Wörter mir liehen -- welche die Menschen nicht nur auf andre, sondern
durch andere mehr auf sich selber aufmerksam machen könnten! Kein Antiphysiognomist kann mein
Werk so sehr verachten, als ich, wenn ich diesem Zwecke dadurch nicht näher komme. Wie könnte
ichs verantworten, so ein Werk zu schreiben, ohne diesen Trieb und Drang -- Wenn das nicht
Beruf ist, so giebt's überall keinen Schriftstellerberuf -- Nicht den kleinsten Zug, Ausbug oder Ein-
bug eines Umrisses kann ich ruhig ansehen, ohne Weisheit und Huld zu erblicken -- ohne mir je-
desmal von neuem, wie aus einem süßen Traume -- in die entzückende Wirklichkeit hineinerwachend,
Glück zu wünschen, daß ich, auch ich -- Mensch -- Mensch bin!

Jn
*) Philos. Reden, Damms Uebersetzung. VII. Rede.
III. Abſchnitt. IV. Fragment.
Viertes Fragment.
Stellen aus Maximus Tyrius.
*)
1.

Da die Seele des Menſchen Gott am naͤchſten aͤhnlich iſt, ſo war es ja nicht billig, daß Gott das ihm
aͤhnlichſte mit einem ungeſchickten Gehaͤuſe umkleiden ſollte; ſondern mit einem Koͤrper, der einer unſterblichen
Seele am angemeſſenſten waͤre, und der ſich geſchickt bewegen koͤnnte. Dieſe eine Art von lebenden Koͤrpern
auf Erden richtet ſich gerade gegen den Himmel in die Hoͤhe; er iſt praͤchtig und ſtolz, und nach dem beſten
Ebenmaße aller ſeiner Theile eingerichtet. Er ſchreckt nicht durch ſeine Groͤße; er iſt nicht fuͤrchterlich wegen
ſeiner Staͤrke; er iſt nicht wegen ſeiner Schwere unbehuͤlflich, oder wegen ſeiner Leichtigkeit zu fallen geneigt.
Er iſt nicht hart anzufuͤhlen; er ſchleichet nicht wegen kalter Saͤfte. Er ſpringt nicht wegen ſeiner Hitze; er
ſchwimmt nicht von ſelbſten wegen Mangel der Dichtigkeit. Er frißt nicht aus Wildigkeit rohes Fleiſch; er
ſrißt auch nicht Gras wie ein Vieh; ſondern er iſt recht zuſammenſtimmend gebaut zu ſeinen Verrichtungen.
Er iſt furchtbar den Boͤſen, zahm und freundlich den Guten. Er geht von Natur auf der Erde. Er fliegt
mit dem Verſtande: Er ſchwimmt durch Kunſt. Er genießt Getraide; er bearbeitet die Erde; er ißt die Fruͤch-
te; er iſt von guter Farbe, ſtandhaften Gliedmaßen, ſchoͤnem Angeſichte und zierlichem Barte. Jn Nach-
bildungen eines ſolchen Koͤrpers die Goͤtter zu verehren, haben die Griechen gut gefunden.

O daß ich doch Stimme genug haͤtte, und Glauben genug faͤnde — tief genug jedem mei-
ner Leſer zu bezeugen, welche unausſprechliche Verwunderung uͤber die unvergleichbare Wunderna-
tur des menſchlichen Koͤrpers meine Seele ſo oft uͤber ſich ſelber zu erheben ſcheint! O daß doch alle
Sprachen der Erde treffende Woͤrter mir liehen — welche die Menſchen nicht nur auf andre, ſondern
durch andere mehr auf ſich ſelber aufmerkſam machen koͤnnten! Kein Antiphyſiognomiſt kann mein
Werk ſo ſehr verachten, als ich, wenn ich dieſem Zwecke dadurch nicht naͤher komme. Wie koͤnnte
ichs verantworten, ſo ein Werk zu ſchreiben, ohne dieſen Trieb und Drang — Wenn das nicht
Beruf iſt, ſo giebt’s uͤberall keinen Schriftſtellerberuf — Nicht den kleinſten Zug, Ausbug oder Ein-
bug eines Umriſſes kann ich ruhig anſehen, ohne Weisheit und Huld zu erblicken — ohne mir je-
desmal von neuem, wie aus einem ſuͤßen Traume — in die entzuͤckende Wirklichkeit hineinerwachend,
Gluͤck zu wuͤnſchen, daß ich, auch ich — Menſch — Menſch bin!

Jn
*) Philoſ. Reden, Damms Ueberſetzung. VII. Rede.
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[184/0214] III. Abſchnitt. IV. Fragment. Viertes Fragment. Stellen aus Maximus Tyrius. *) 1. Da die Seele des Menſchen Gott am naͤchſten aͤhnlich iſt, ſo war es ja nicht billig, daß Gott das ihm aͤhnlichſte mit einem ungeſchickten Gehaͤuſe umkleiden ſollte; ſondern mit einem Koͤrper, der einer unſterblichen Seele am angemeſſenſten waͤre, und der ſich geſchickt bewegen koͤnnte. Dieſe eine Art von lebenden Koͤrpern auf Erden richtet ſich gerade gegen den Himmel in die Hoͤhe; er iſt praͤchtig und ſtolz, und nach dem beſten Ebenmaße aller ſeiner Theile eingerichtet. Er ſchreckt nicht durch ſeine Groͤße; er iſt nicht fuͤrchterlich wegen ſeiner Staͤrke; er iſt nicht wegen ſeiner Schwere unbehuͤlflich, oder wegen ſeiner Leichtigkeit zu fallen geneigt. Er iſt nicht hart anzufuͤhlen; er ſchleichet nicht wegen kalter Saͤfte. Er ſpringt nicht wegen ſeiner Hitze; er ſchwimmt nicht von ſelbſten wegen Mangel der Dichtigkeit. Er frißt nicht aus Wildigkeit rohes Fleiſch; er ſrißt auch nicht Gras wie ein Vieh; ſondern er iſt recht zuſammenſtimmend gebaut zu ſeinen Verrichtungen. Er iſt furchtbar den Boͤſen, zahm und freundlich den Guten. Er geht von Natur auf der Erde. Er fliegt mit dem Verſtande: Er ſchwimmt durch Kunſt. Er genießt Getraide; er bearbeitet die Erde; er ißt die Fruͤch- te; er iſt von guter Farbe, ſtandhaften Gliedmaßen, ſchoͤnem Angeſichte und zierlichem Barte. Jn Nach- bildungen eines ſolchen Koͤrpers die Goͤtter zu verehren, haben die Griechen gut gefunden. O daß ich doch Stimme genug haͤtte, und Glauben genug faͤnde — tief genug jedem mei- ner Leſer zu bezeugen, welche unausſprechliche Verwunderung uͤber die unvergleichbare Wunderna- tur des menſchlichen Koͤrpers meine Seele ſo oft uͤber ſich ſelber zu erheben ſcheint! O daß doch alle Sprachen der Erde treffende Woͤrter mir liehen — welche die Menſchen nicht nur auf andre, ſondern durch andere mehr auf ſich ſelber aufmerkſam machen koͤnnten! Kein Antiphyſiognomiſt kann mein Werk ſo ſehr verachten, als ich, wenn ich dieſem Zwecke dadurch nicht naͤher komme. Wie koͤnnte ichs verantworten, ſo ein Werk zu ſchreiben, ohne dieſen Trieb und Drang — Wenn das nicht Beruf iſt, ſo giebt’s uͤberall keinen Schriftſtellerberuf — Nicht den kleinſten Zug, Ausbug oder Ein- bug eines Umriſſes kann ich ruhig anſehen, ohne Weisheit und Huld zu erblicken — ohne mir je- desmal von neuem, wie aus einem ſuͤßen Traume — in die entzuͤckende Wirklichkeit hineinerwachend, Gluͤck zu wuͤnſchen, daß ich, auch ich — Menſch — Menſch bin! Jn *) Philoſ. Reden, Damms Ueberſetzung. VII. Rede.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/214>, abgerufen am 24.11.2024.