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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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V. Abschnitt. II. Fragment.
"selbst und allein betrachtet. Jch glaube, der Mensch von seinem stillesten Ruhestande an, bis zum
"höchsten Grade des Zornes, der Furcht und des Schmerzes, wäre so bestimmt zu charakterisiren,
[Spaltenumbruch]

daß
"Auge, daß in dem Gesichte allezeit, so wie die Seele,
"also auch vielmals der Charakter der Nation sichtbar
"sey, und wie die Natur große Striche und Länder
"durch Berge und Flüsse von einander gesondert, so
"hat auch die Mannichfaltigkeit derselben die Einwoh-
"ner solcher Länder durch ihre eigene Züge unterschie-
"den; und in weit entlegenen Ländern ist die Verschie-
"denheit auch in andern Theilen des Körpers und in
"der Statur. Die Thiere sind in ihren Arten nach
"Beschaffenheit der Länder nicht verschiedener als die
"Menschen sind; und es haben einige bemerken wollen,
"daß die Thiere die Eigenschaft der Einwohner ihrer
"Länder haben. Die Bildung des Gesichtes ist so ver-
"schieden, wie die Sprachen, ja wie die Mundarten
"derselben; und diese sind es vermöge der Werkzeuge
"der Rede selbst, so daß in kalten Ländern die Nerven
"der Zunge starrer und weniger schnell seyn müssen, als
"in warmen Ländern; und wenn den Grönländern und
"verschiedenen Völkern in Amerika Buchstaben man-
"geln, muß dieses aus eben dem Grunde herrühren.
"Daher kommt es, daß alle mitternächtliche Sprachen
"mehr einsylbige Wörter haben, und mehr mit Conso-
"nanten überladen sind, deren Verbindung und Aus-
"sprache andern Nationen schwer, ja zum Theil un-
"möglich fällt. Jn dem verschiedenen Gewebe und
"Bildung der Werkzeuge der Rede suchet ein berühmter
"Scribent sogar den Unterschied der Mundarten der
"italiänischen Sprache. Aus angeführtem Grunde,
"sagt er, haben die Lombarder, welche in kältern
"Ländern von Jtaliänern gebohren sind, eine rohe und
"abgekürzte Aussprache; die Toscaner und Römer re-
"den mit einem abgemeßnern Tone; die Neapolita-
[Spaltenumbruch] "ner, welche einen noch wärmern Himmel genießen,
"lassen die Vocale mehr als jene hören, und sprechen
"mit einem völligern Munde. Diejenigen, welche viel
"Nationen kennen lernen, unterscheiden dieselben eben
"so richtig und untrüglich aus der Bildung des Gesich-
"tes, als aus der Sprache. Da nun der Mensch alle-
"zeit der vornehmste Vorwurf der Kunst und der Künst-
"ler gewesen ist, so haben diese in jedem Lande ihren Fi-
"guren die Gesichtsbildung ihrer Nation gegeben; und
"daß die Kunst im Alterthume eine Gestalt nach der
"Bildung des Menschen angenommen, beweiset ein glei-
"ches Verhältniß einer zu der andern in neuern Zeiten.
"Deutsche, Holländer und Franzosen, wenn sie nicht
"aus ihrem Lande und aus ihrer Natur gehen, sind,
"wie die Sineser und Tartarn, in ihren Gemälden
"kenntlich. Rubens hat nach einem vieljährigen Auf-
"enthalt in Jtalien seine Figuren beständig gezeichnet,
"als wenn er niemals aus seinem Vaterlande gegan-
"gen wäre.


Noch eine Stelle aus Winkelmann. "Der aufge-
"worfene schwülstige Mund, welchen die Mohren mit
"den Affen in ihrem Lande gemein haben, ist ein über-
"flüßiges Gewüchs und eine Schwulst, welche die Hitze
"ihres Climas verursacht, so wie uns die Lippen von
"Hitze, oder von scharfen salzichten Feuchtigkeiten, auch
"einigen Menschen im heftigen Zorn, aufschwellen.
"Die kleinen Augen der entlegenen nördlichen und öst-
"lichen Länder sind in der Unvollkommenheit ihres Ge-
"wächses mit begriffen, welches kurz und klein ist.
"Solche Bildungen wirket die Natur allgemeiner, je
"mehr sie sich ihren äußersten Enden nähert, und ent-
"weder

V. Abſchnitt. II. Fragment.
„ſelbſt und allein betrachtet. Jch glaube, der Menſch von ſeinem ſtilleſten Ruheſtande an, bis zum
„hoͤchſten Grade des Zornes, der Furcht und des Schmerzes, waͤre ſo beſtimmt zu charakteriſiren,
[Spaltenumbruch]

daß
„Auge, daß in dem Geſichte allezeit, ſo wie die Seele,
„alſo auch vielmals der Charakter der Nation ſichtbar
„ſey, und wie die Natur große Striche und Laͤnder
„durch Berge und Fluͤſſe von einander geſondert, ſo
„hat auch die Mannichfaltigkeit derſelben die Einwoh-
„ner ſolcher Laͤnder durch ihre eigene Zuͤge unterſchie-
„den; und in weit entlegenen Laͤndern iſt die Verſchie-
„denheit auch in andern Theilen des Koͤrpers und in
„der Statur. Die Thiere ſind in ihren Arten nach
„Beſchaffenheit der Laͤnder nicht verſchiedener als die
„Menſchen ſind; und es haben einige bemerken wollen,
„daß die Thiere die Eigenſchaft der Einwohner ihrer
„Laͤnder haben. Die Bildung des Geſichtes iſt ſo ver-
„ſchieden, wie die Sprachen, ja wie die Mundarten
„derſelben; und dieſe ſind es vermoͤge der Werkzeuge
„der Rede ſelbſt, ſo daß in kalten Laͤndern die Nerven
„der Zunge ſtarrer und weniger ſchnell ſeyn muͤſſen, als
„in warmen Laͤndern; und wenn den Groͤnlaͤndern und
„verſchiedenen Voͤlkern in Amerika Buchſtaben man-
„geln, muß dieſes aus eben dem Grunde herruͤhren.
„Daher kommt es, daß alle mitternaͤchtliche Sprachen
„mehr einſylbige Woͤrter haben, und mehr mit Conſo-
„nanten uͤberladen ſind, deren Verbindung und Aus-
„ſprache andern Nationen ſchwer, ja zum Theil un-
„moͤglich faͤllt. Jn dem verſchiedenen Gewebe und
„Bildung der Werkzeuge der Rede ſuchet ein beruͤhmter
„Scribent ſogar den Unterſchied der Mundarten der
„italiaͤniſchen Sprache. Aus angefuͤhrtem Grunde,
„ſagt er, haben die Lombarder, welche in kaͤltern
„Laͤndern von Jtaliaͤnern gebohren ſind, eine rohe und
„abgekuͤrzte Ausſprache; die Toſcaner und Roͤmer re-
„den mit einem abgemeßnern Tone; die Neapolita-
[Spaltenumbruch]ner, welche einen noch waͤrmern Himmel genießen,
„laſſen die Vocale mehr als jene hoͤren, und ſprechen
„mit einem voͤlligern Munde. Diejenigen, welche viel
„Nationen kennen lernen, unterſcheiden dieſelben eben
„ſo richtig und untruͤglich aus der Bildung des Geſich-
„tes, als aus der Sprache. Da nun der Menſch alle-
„zeit der vornehmſte Vorwurf der Kunſt und der Kuͤnſt-
„ler geweſen iſt, ſo haben dieſe in jedem Lande ihren Fi-
„guren die Geſichtsbildung ihrer Nation gegeben; und
„daß die Kunſt im Alterthume eine Geſtalt nach der
„Bildung des Menſchen angenommen, beweiſet ein glei-
„ches Verhaͤltniß einer zu der andern in neuern Zeiten.
Deutſche, Hollaͤnder und Franzoſen, wenn ſie nicht
„aus ihrem Lande und aus ihrer Natur gehen, ſind,
„wie die Sineſer und Tartarn, in ihren Gemaͤlden
„kenntlich. Rubens hat nach einem vieljaͤhrigen Auf-
„enthalt in Jtalien ſeine Figuren beſtaͤndig gezeichnet,
„als wenn er niemals aus ſeinem Vaterlande gegan-
„gen waͤre.


Noch eine Stelle aus Winkelmann. „Der aufge-
„worfene ſchwuͤlſtige Mund, welchen die Mohren mit
„den Affen in ihrem Lande gemein haben, iſt ein uͤber-
„fluͤßiges Gewuͤchs und eine Schwulſt, welche die Hitze
„ihres Climas verurſacht, ſo wie uns die Lippen von
„Hitze, oder von ſcharfen ſalzichten Feuchtigkeiten, auch
„einigen Menſchen im heftigen Zorn, aufſchwellen.
„Die kleinen Augen der entlegenen noͤrdlichen und oͤſt-
„lichen Laͤnder ſind in der Unvollkommenheit ihres Ge-
„waͤchſes mit begriffen, welches kurz und klein iſt.
„Solche Bildungen wirket die Natur allgemeiner, je
„mehr ſie ſich ihren aͤußerſten Enden naͤhert, und ent-
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[278/0318] V. Abſchnitt. II. Fragment. „ſelbſt und allein betrachtet. Jch glaube, der Menſch von ſeinem ſtilleſten Ruheſtande an, bis zum „hoͤchſten Grade des Zornes, der Furcht und des Schmerzes, waͤre ſo beſtimmt zu charakteriſiren, daß 1) 1) „Auge, daß in dem Geſichte allezeit, ſo wie die Seele, „alſo auch vielmals der Charakter der Nation ſichtbar „ſey, und wie die Natur große Striche und Laͤnder „durch Berge und Fluͤſſe von einander geſondert, ſo „hat auch die Mannichfaltigkeit derſelben die Einwoh- „ner ſolcher Laͤnder durch ihre eigene Zuͤge unterſchie- „den; und in weit entlegenen Laͤndern iſt die Verſchie- „denheit auch in andern Theilen des Koͤrpers und in „der Statur. Die Thiere ſind in ihren Arten nach „Beſchaffenheit der Laͤnder nicht verſchiedener als die „Menſchen ſind; und es haben einige bemerken wollen, „daß die Thiere die Eigenſchaft der Einwohner ihrer „Laͤnder haben. Die Bildung des Geſichtes iſt ſo ver- „ſchieden, wie die Sprachen, ja wie die Mundarten „derſelben; und dieſe ſind es vermoͤge der Werkzeuge „der Rede ſelbſt, ſo daß in kalten Laͤndern die Nerven „der Zunge ſtarrer und weniger ſchnell ſeyn muͤſſen, als „in warmen Laͤndern; und wenn den Groͤnlaͤndern und „verſchiedenen Voͤlkern in Amerika Buchſtaben man- „geln, muß dieſes aus eben dem Grunde herruͤhren. „Daher kommt es, daß alle mitternaͤchtliche Sprachen „mehr einſylbige Woͤrter haben, und mehr mit Conſo- „nanten uͤberladen ſind, deren Verbindung und Aus- „ſprache andern Nationen ſchwer, ja zum Theil un- „moͤglich faͤllt. Jn dem verſchiedenen Gewebe und „Bildung der Werkzeuge der Rede ſuchet ein beruͤhmter „Scribent ſogar den Unterſchied der Mundarten der „italiaͤniſchen Sprache. Aus angefuͤhrtem Grunde, „ſagt er, haben die Lombarder, welche in kaͤltern „Laͤndern von Jtaliaͤnern gebohren ſind, eine rohe und „abgekuͤrzte Ausſprache; die Toſcaner und Roͤmer re- „den mit einem abgemeßnern Tone; die Neapolita- „ner, welche einen noch waͤrmern Himmel genießen, „laſſen die Vocale mehr als jene hoͤren, und ſprechen „mit einem voͤlligern Munde. Diejenigen, welche viel „Nationen kennen lernen, unterſcheiden dieſelben eben „ſo richtig und untruͤglich aus der Bildung des Geſich- „tes, als aus der Sprache. Da nun der Menſch alle- „zeit der vornehmſte Vorwurf der Kunſt und der Kuͤnſt- „ler geweſen iſt, ſo haben dieſe in jedem Lande ihren Fi- „guren die Geſichtsbildung ihrer Nation gegeben; und „daß die Kunſt im Alterthume eine Geſtalt nach der „Bildung des Menſchen angenommen, beweiſet ein glei- „ches Verhaͤltniß einer zu der andern in neuern Zeiten. „Deutſche, Hollaͤnder und Franzoſen, wenn ſie nicht „aus ihrem Lande und aus ihrer Natur gehen, ſind, „wie die Sineſer und Tartarn, in ihren Gemaͤlden „kenntlich. Rubens hat nach einem vieljaͤhrigen Auf- „enthalt in Jtalien ſeine Figuren beſtaͤndig gezeichnet, „als wenn er niemals aus ſeinem Vaterlande gegan- „gen waͤre. Noch eine Stelle aus Winkelmann. „Der aufge- „worfene ſchwuͤlſtige Mund, welchen die Mohren mit „den Affen in ihrem Lande gemein haben, iſt ein uͤber- „fluͤßiges Gewuͤchs und eine Schwulſt, welche die Hitze „ihres Climas verurſacht, ſo wie uns die Lippen von „Hitze, oder von ſcharfen ſalzichten Feuchtigkeiten, auch „einigen Menſchen im heftigen Zorn, aufſchwellen. „Die kleinen Augen der entlegenen noͤrdlichen und oͤſt- „lichen Laͤnder ſind in der Unvollkommenheit ihres Ge- „waͤchſes mit begriffen, welches kurz und klein iſt. „Solche Bildungen wirket die Natur allgemeiner, je „mehr ſie ſich ihren aͤußerſten Enden naͤhert, und ent- „weder

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/318>, abgerufen am 24.11.2024.