"Völker, die weder Halsbänder noch Strumpfbänder tragen, sind nicht so elend, als wir "meynen. Die Sklaverey, worinn sie leben, ist ihrer physischen Existenz sehr zuträglich. Sie sind "ungleich besser genährt, als der Bauer bey uns, und haben weder mit Nahrungssorgen, noch mit "ausmärgelnder Arbeit zu kämpfen. Wie ihre Pferde-Racen an Größe und Stärke die unsri- "gen übertreffen, so auch ihre Landleute diejenigen bey uns, die Eigenthum haben, oder zu haben "glauben. Jhre Bedürfnisse sind einfach und ihr Witz hinlänglich, sie ihnen meisteus alle selbst zu "verschaffen. Ein russischer oder pohlnischer Bauer ist daher Zimmermann, Schneider, Schuster, "Maurer, Dachdecker u. dgl. und wenn man die Werke ihrer Hände sieht, läßt sich auch die Mög- "lichkeit davon begreifen. Daher rührt ihre Anstelligkeit zu allen Künsten und Handwerkern, so- "bald man ihnen Handgriffe und Prinzipia beygebracht hat. Erfindung im Großen ist aber ihre "Sache nicht, weil ihre Seele einer Maschiene gleicht, die stockstille steht, sobald das Gewicht der "Noth und des Zwanges abgelaufen ist.
"Unter dem Gemengsel von Nationen, die den russischen Scepter verehren, lasse ich alle "Völker des weiten Sibiriens zurück, und denke mir nur den eigentlichen Russen, der an den "Finnen, Esthen und Liven gränzt, bis an den Anfang Asiens. Sein Charakter beym ersten "Anblick ist ungeheure Stärke und Nervenfestigkeit. Diese erkennt man sogleich an der breiten Brust "und dem Coloß von Hals, der gerade wie ein farnesischer Herkules bey einem ganzen Schiffe voll "Matrosen derselbe ist. Sodann das Schwarze, Harte, Dichte, Rauhe, Starke des Haupt- und "Barthaares; die schwarzen, tiefliegenden Pechaugen; die bis an die Nase mit einem
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Einbug ge- "schlossene kurze Stirn. Oft findet sich Feinheit des Mundes; allein gemeiniglich ist er plump, weit "aufgerissen, dicklippicht, und bey den Weibern geben die starken Backenknochen und einstehenden "Schläfe und die stumpfen Nasen, die sich an die zurückgebogene Stirne anschließen, sehr wenige "Züge zur idealen Schönheit. Jn gewissen Jahren werden beyde Geschlechter gern fett. Jhre Zeu- "gungskraft übersteigt allen Glauben.
"Mitten inne wohnt der Ukränier, aus denen die meisten Cosakenregimenter bestehen; die- "se zeichnen sich von den andern Russen beynahe so aus, wie bey uns die Juden von den Euro- "päern. Sie haben meistens Habichtsnasen, sind edelgebildete, sinnlichliebende, nachgebende, an-
stellige
V. Abſchnitt. III. Fragment.
„Voͤlker, die weder Halsbaͤnder noch Strumpfbaͤnder tragen, ſind nicht ſo elend, als wir „meynen. Die Sklaverey, worinn ſie leben, iſt ihrer phyſiſchen Exiſtenz ſehr zutraͤglich. Sie ſind „ungleich beſſer genaͤhrt, als der Bauer bey uns, und haben weder mit Nahrungsſorgen, noch mit „ausmaͤrgelnder Arbeit zu kaͤmpfen. Wie ihre Pferde-Racen an Groͤße und Staͤrke die unſri- „gen uͤbertreffen, ſo auch ihre Landleute diejenigen bey uns, die Eigenthum haben, oder zu haben „glauben. Jhre Beduͤrfniſſe ſind einfach und ihr Witz hinlaͤnglich, ſie ihnen meiſteus alle ſelbſt zu „verſchaffen. Ein ruſſiſcher oder pohlniſcher Bauer iſt daher Zimmermann, Schneider, Schuſter, „Maurer, Dachdecker u. dgl. und wenn man die Werke ihrer Haͤnde ſieht, laͤßt ſich auch die Moͤg- „lichkeit davon begreifen. Daher ruͤhrt ihre Anſtelligkeit zu allen Kuͤnſten und Handwerkern, ſo- „bald man ihnen Handgriffe und Prinzipia beygebracht hat. Erfindung im Großen iſt aber ihre „Sache nicht, weil ihre Seele einer Maſchiene gleicht, die ſtockſtille ſteht, ſobald das Gewicht der „Noth und des Zwanges abgelaufen iſt.
„Unter dem Gemengſel von Nationen, die den ruſſiſchen Scepter verehren, laſſe ich alle „Voͤlker des weiten Sibiriens zuruͤck, und denke mir nur den eigentlichen Ruſſen, der an den „Finnen, Eſthen und Liven graͤnzt, bis an den Anfang Aſiens. Sein Charakter beym erſten „Anblick iſt ungeheure Staͤrke und Nervenfeſtigkeit. Dieſe erkennt man ſogleich an der breiten Bruſt „und dem Coloß von Hals, der gerade wie ein farneſiſcher Herkules bey einem ganzen Schiffe voll „Matroſen derſelbe iſt. Sodann das Schwarze, Harte, Dichte, Rauhe, Starke des Haupt- und „Barthaares; die ſchwarzen, tiefliegenden Pechaugen; die bis an die Naſe mit einem
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Einbug ge- „ſchloſſene kurze Stirn. Oft findet ſich Feinheit des Mundes; allein gemeiniglich iſt er plump, weit „aufgeriſſen, dicklippicht, und bey den Weibern geben die ſtarken Backenknochen und einſtehenden „Schlaͤfe und die ſtumpfen Naſen, die ſich an die zuruͤckgebogene Stirne anſchließen, ſehr wenige „Zuͤge zur idealen Schoͤnheit. Jn gewiſſen Jahren werden beyde Geſchlechter gern fett. Jhre Zeu- „gungskraft uͤberſteigt allen Glauben.
„Mitten inne wohnt der Ukraͤnier, aus denen die meiſten Coſakenregimenter beſtehen; die- „ſe zeichnen ſich von den andern Ruſſen beynahe ſo aus, wie bey uns die Juden von den Euro- „paͤern. Sie haben meiſtens Habichtsnaſen, ſind edelgebildete, ſinnlichliebende, nachgebende, an-
ſtellige
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V. Abſchnitt. III. Fragment.
„Voͤlker, die weder Halsbaͤnder noch Strumpfbaͤnder tragen, ſind nicht ſo elend, als wir
„meynen. Die Sklaverey, worinn ſie leben, iſt ihrer phyſiſchen Exiſtenz ſehr zutraͤglich. Sie ſind
„ungleich beſſer genaͤhrt, als der Bauer bey uns, und haben weder mit Nahrungsſorgen, noch mit
„ausmaͤrgelnder Arbeit zu kaͤmpfen. Wie ihre Pferde-Racen an Groͤße und Staͤrke die unſri-
„gen uͤbertreffen, ſo auch ihre Landleute diejenigen bey uns, die Eigenthum haben, oder zu haben
„glauben. Jhre Beduͤrfniſſe ſind einfach und ihr Witz hinlaͤnglich, ſie ihnen meiſteus alle ſelbſt zu
„verſchaffen. Ein ruſſiſcher oder pohlniſcher Bauer iſt daher Zimmermann, Schneider, Schuſter,
„Maurer, Dachdecker u. dgl. und wenn man die Werke ihrer Haͤnde ſieht, laͤßt ſich auch die Moͤg-
„lichkeit davon begreifen. Daher ruͤhrt ihre Anſtelligkeit zu allen Kuͤnſten und Handwerkern, ſo-
„bald man ihnen Handgriffe und Prinzipia beygebracht hat. Erfindung im Großen iſt aber ihre
„Sache nicht, weil ihre Seele einer Maſchiene gleicht, die ſtockſtille ſteht, ſobald das Gewicht der
„Noth und des Zwanges abgelaufen iſt.
„Unter dem Gemengſel von Nationen, die den ruſſiſchen Scepter verehren, laſſe ich alle
„Voͤlker des weiten Sibiriens zuruͤck, und denke mir nur den eigentlichen Ruſſen, der an den
„Finnen, Eſthen und Liven graͤnzt, bis an den Anfang Aſiens. Sein Charakter beym erſten
„Anblick iſt ungeheure Staͤrke und Nervenfeſtigkeit. Dieſe erkennt man ſogleich an der breiten Bruſt
„und dem Coloß von Hals, der gerade wie ein farneſiſcher Herkules bey einem ganzen Schiffe voll
„Matroſen derſelbe iſt. Sodann das Schwarze, Harte, Dichte, Rauhe, Starke des Haupt- und
„Barthaares; die ſchwarzen, tiefliegenden Pechaugen; die bis an die Naſe mit einem
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Einbug ge-
„ſchloſſene kurze Stirn. Oft findet ſich Feinheit des Mundes; allein gemeiniglich iſt er plump, weit
„aufgeriſſen, dicklippicht, und bey den Weibern geben die ſtarken Backenknochen und einſtehenden
„Schlaͤfe und die ſtumpfen Naſen, die ſich an die zuruͤckgebogene Stirne anſchließen, ſehr wenige
„Zuͤge zur idealen Schoͤnheit. Jn gewiſſen Jahren werden beyde Geſchlechter gern fett. Jhre Zeu-
„gungskraft uͤberſteigt allen Glauben.
„Mitten inne wohnt der Ukraͤnier, aus denen die meiſten Coſakenregimenter beſtehen; die-
„ſe zeichnen ſich von den andern Ruſſen beynahe ſo aus, wie bey uns die Juden von den Euro-
„paͤern. Sie haben meiſtens Habichtsnaſen, ſind edelgebildete, ſinnlichliebende, nachgebende, an-
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/324>, abgerufen am 24.11.2024.
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