Aus der Handschrift eines Darmstädtischen Gelehrten.
"Das Gesicht des Jtaliäners ist Seele; seine Sprache Exklamation; seine Bewegung "gestikulirend. Seine Bildung ist die edelste, und dieses Land der wahre Sitz der Schönheit. Die "kurze Stirn, die starkgezeichneten Augenknochen; das Beinerne der Nase, der feine Contour des "Mundes geben ihm ein Recht an die altgriechische Verwandschaft. Das Feuer der Augen zeigt "auch hier, daß die wohlthätigere Sonne reifere Seelenfrüchte hervorbringe, als jenseits der Al- "pen. Seine Einbildungskraft ist immer rege, immer simpathisirend mit allem, was sie umgiebt, "und so wie in dem Gedichte Ariosts sich die ganze Schöpfung abspiegelt, so thut sie es im All- "gemeinen in dem Geiste der Nation. Die Kraft, die solch ein Werk hervorbringen konnte, ist "mir ein Bild des Genius im Ganzen. Alles singt sie an, und alles singt aus ihr. Das Subli- "me in den Künsten ist ihr Eigenthum. Das neuere Religions- und Staatssystem kann dem Cha- "rakter eine falsche Falte gegeben haben. Nur der Pöbel mag treulos und heimtückisch seyn. Der "bessere Theil der Nation ist voll der edelsten und besten Menschen.
"Der Holländer ist ruhig, harmlos, beschränkt, und es scheint: Er wolle nichts. Sein "Gang und Auge sagen lange nichts, und man kann Stundenlang mit ihm umgehen, bis ihm eine "Meynung entfährt. Mit dem Ozean der Leidenschaften mag er wenig zu schaffen haben, und es "mögen alle Nationen mit den buntesten Wimpeln und allen 32. Winden die Kreuz und Queere "vor seinen Augen vorüber fahren; er bleibt ruhig auf seinem Stuhle sitzen. Besitz und Ruhe sind "sein Gott. Die Künste, die dazu gehören, sich diese Güter des Lebens zu verschaffen, beschäfftigen "auch einzig seine Seele. Der Grundsatz, sich in der Sicherheit des Erworbenen zu erhalten, macht "sogar den Geist seiner Staats- und Handelsgesetze aus. Er ist in allem tolerant, was die Men- "schen im Jntellektuellen entzweyt; man lasse ihm nur sein Gewerbe und das Gotteshäuschen sei- "ner Sekte ungestört. Der Ameisencharakter scheint so sehr das Bild dieser Nation zu seyn, daß "man auch daher die mannichfaltige Philologie dieses Landes in allen Arten der Litteratur erklären "kann. Was die Einbildungskraft der Menschen an poetischen Gestalten kleines und großes Ver- "hältnisses je hervorgebracht haben mag, ist diesem Volke fremd. Sie lassen sichs gefallen, thun "aber nichts hinzu. Wir verstehen hier den Bewohner der vereinigten Provinzen, und nicht den
Flamän-
Aus der Handſchrift eines Darmſtaͤdtiſchen Gelehrten.
„Das Geſicht des Jtaliaͤners iſt Seele; ſeine Sprache Exklamation; ſeine Bewegung „geſtikulirend. Seine Bildung iſt die edelſte, und dieſes Land der wahre Sitz der Schoͤnheit. Die „kurze Stirn, die ſtarkgezeichneten Augenknochen; das Beinerne der Naſe, der feine Contour des „Mundes geben ihm ein Recht an die altgriechiſche Verwandſchaft. Das Feuer der Augen zeigt „auch hier, daß die wohlthaͤtigere Sonne reifere Seelenfruͤchte hervorbringe, als jenſeits der Al- „pen. Seine Einbildungskraft iſt immer rege, immer ſimpathiſirend mit allem, was ſie umgiebt, „und ſo wie in dem Gedichte Arioſts ſich die ganze Schoͤpfung abſpiegelt, ſo thut ſie es im All- „gemeinen in dem Geiſte der Nation. Die Kraft, die ſolch ein Werk hervorbringen konnte, iſt „mir ein Bild des Genius im Ganzen. Alles ſingt ſie an, und alles ſingt aus ihr. Das Subli- „me in den Kuͤnſten iſt ihr Eigenthum. Das neuere Religions- und Staatsſyſtem kann dem Cha- „rakter eine falſche Falte gegeben haben. Nur der Poͤbel mag treulos und heimtuͤckiſch ſeyn. Der „beſſere Theil der Nation iſt voll der edelſten und beſten Menſchen.
„Der Hollaͤnder iſt ruhig, harmlos, beſchraͤnkt, und es ſcheint: Er wolle nichts. Sein „Gang und Auge ſagen lange nichts, und man kann Stundenlang mit ihm umgehen, bis ihm eine „Meynung entfaͤhrt. Mit dem Ozean der Leidenſchaften mag er wenig zu ſchaffen haben, und es „moͤgen alle Nationen mit den bunteſten Wimpeln und allen 32. Winden die Kreuz und Queere „vor ſeinen Augen voruͤber fahren; er bleibt ruhig auf ſeinem Stuhle ſitzen. Beſitz und Ruhe ſind „ſein Gott. Die Kuͤnſte, die dazu gehoͤren, ſich dieſe Guͤter des Lebens zu verſchaffen, beſchaͤfftigen „auch einzig ſeine Seele. Der Grundſatz, ſich in der Sicherheit des Erworbenen zu erhalten, macht „ſogar den Geiſt ſeiner Staats- und Handelsgeſetze aus. Er iſt in allem tolerant, was die Men- „ſchen im Jntellektuellen entzweyt; man laſſe ihm nur ſein Gewerbe und das Gotteshaͤuschen ſei- „ner Sekte ungeſtoͤrt. Der Ameiſencharakter ſcheint ſo ſehr das Bild dieſer Nation zu ſeyn, daß „man auch daher die mannichfaltige Philologie dieſes Landes in allen Arten der Litteratur erklaͤren „kann. Was die Einbildungskraft der Menſchen an poetiſchen Geſtalten kleines und großes Ver- „haͤltniſſes je hervorgebracht haben mag, iſt dieſem Volke fremd. Sie laſſen ſichs gefallen, thun „aber nichts hinzu. Wir verſtehen hier den Bewohner der vereinigten Provinzen, und nicht den
Flamaͤn-
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Aus der Handſchrift eines Darmſtaͤdtiſchen Gelehrten.
„Das Geſicht des Jtaliaͤners iſt Seele; ſeine Sprache Exklamation; ſeine Bewegung
„geſtikulirend. Seine Bildung iſt die edelſte, und dieſes Land der wahre Sitz der Schoͤnheit. Die
„kurze Stirn, die ſtarkgezeichneten Augenknochen; das Beinerne der Naſe, der feine Contour des
„Mundes geben ihm ein Recht an die altgriechiſche Verwandſchaft. Das Feuer der Augen zeigt
„auch hier, daß die wohlthaͤtigere Sonne reifere Seelenfruͤchte hervorbringe, als jenſeits der Al-
„pen. Seine Einbildungskraft iſt immer rege, immer ſimpathiſirend mit allem, was ſie umgiebt,
„und ſo wie in dem Gedichte Arioſts ſich die ganze Schoͤpfung abſpiegelt, ſo thut ſie es im All-
„gemeinen in dem Geiſte der Nation. Die Kraft, die ſolch ein Werk hervorbringen konnte, iſt
„mir ein Bild des Genius im Ganzen. Alles ſingt ſie an, und alles ſingt aus ihr. Das Subli-
„me in den Kuͤnſten iſt ihr Eigenthum. Das neuere Religions- und Staatsſyſtem kann dem Cha-
„rakter eine falſche Falte gegeben haben. Nur der Poͤbel mag treulos und heimtuͤckiſch ſeyn. Der
„beſſere Theil der Nation iſt voll der edelſten und beſten Menſchen.
„Der Hollaͤnder iſt ruhig, harmlos, beſchraͤnkt, und es ſcheint: Er wolle nichts. Sein
„Gang und Auge ſagen lange nichts, und man kann Stundenlang mit ihm umgehen, bis ihm eine
„Meynung entfaͤhrt. Mit dem Ozean der Leidenſchaften mag er wenig zu ſchaffen haben, und es
„moͤgen alle Nationen mit den bunteſten Wimpeln und allen 32. Winden die Kreuz und Queere
„vor ſeinen Augen voruͤber fahren; er bleibt ruhig auf ſeinem Stuhle ſitzen. Beſitz und Ruhe ſind
„ſein Gott. Die Kuͤnſte, die dazu gehoͤren, ſich dieſe Guͤter des Lebens zu verſchaffen, beſchaͤfftigen
„auch einzig ſeine Seele. Der Grundſatz, ſich in der Sicherheit des Erworbenen zu erhalten, macht
„ſogar den Geiſt ſeiner Staats- und Handelsgeſetze aus. Er iſt in allem tolerant, was die Men-
„ſchen im Jntellektuellen entzweyt; man laſſe ihm nur ſein Gewerbe und das Gotteshaͤuschen ſei-
„ner Sekte ungeſtoͤrt. Der Ameiſencharakter ſcheint ſo ſehr das Bild dieſer Nation zu ſeyn, daß
„man auch daher die mannichfaltige Philologie dieſes Landes in allen Arten der Litteratur erklaͤren
„kann. Was die Einbildungskraft der Menſchen an poetiſchen Geſtalten kleines und großes Ver-
„haͤltniſſes je hervorgebracht haben mag, iſt dieſem Volke fremd. Sie laſſen ſichs gefallen, thun
„aber nichts hinzu. Wir verſtehen hier den Bewohner der vereinigten Provinzen, und nicht den
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/327>, abgerufen am 24.11.2024.
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