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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Etwas von den Temperamenten.

Von unzähligen Menschen, die ich sehe, könnte ich nicht sagen: "Sie haben dieß, jenes
"der vier bekannten Temperamente." Aber von unzähligen ließe sich, bey genauer Beobachtung,
sagen, in welches Zehend der Skala sie gehörten, wenn man eine Leiter von 100. Graden der Em-
pfindlichkeit bey einem gewissen Gegenstande annähme. Jch sage immer: bey einem gewissen Ge-
genstande -- denn wie in dem folgenden Aufsatz eines Freundes bemerkt werden wird -- und zum
Theil eben bemerkt worden -- jedes Temperament hat seine eigene Reizbarkeit in Höhe, Tiefe u. s. w.
Also müßte man einen bestimmten Punkt annehmen, gegen den sich alle stellen müßten; der auf
sie wirken müßte, so wie der Thermometer nur an dem Orte, wo er beständig steht, bestimmte
Anzeigen giebt.

Diesen Punkt kann jeder annehmen, wie er will.
Jeder könnte sich selbst zum Thermometer aller Temperamente machen, die auf ihn wirken.
Um diesen Gedanken einigermaßen sinnlich zu machen, haben wir die Adieux von Calas
nach Chodowiecki auf das Titelblatt dieses Bandes hingesetzt.
Das feuchteste Temperament ist bey dieser Scene das unreizbarste. (a)
Das luftige ist bloß zu kraftlosen Thränen reizbar. (b)
Das feurige -- zu kraftvoller Rache. (c)
Das irrdische hat keine Elastizität; schwirrt nicht, sondern wird zu Boden gedrückt. (d)
Der Phlegmatiker ist rund, glatt, voll und sitzt.
Der Sanguiniker steht, hüpft, fliegt, ist länglicht rund und proportionirt.
Der Choleriker ist eckigter, und drückt, und stampft.
Der Melancholische ist eingedrückt und sinkt.
Bey
(a) Aber zeigt ihm leichte Vortheile, seine Ruhe und
Bequemlichkeit zu vermehren, so ist es reizbar zur Bieg-
samkeit unter alles, wenns nicht zu lange währt, doch
auch zur längsten Geduld, wenn ihr die Vortheile ver-
doppelt, oder keine andere Auskunft laßt. Stört ihrs
ganz, so wirds hinreissende Ueberschwemmung.
(b) Zu allen Lustigkeiten desgleichen.
(c) Zu allem besten und ärgsten, was nur Feuer er-
[Spaltenumbruch] fordert und nährt, nur nicht zur Ruhe, außer es sey
außerordentlich müde oder ekel worden auf eine
Weile.
(d) Nur reizbar zu fester Anhänglichkeit, wo fester
Besitz zu hoffen, zur Festhaltnng unter allem Druck;
giebt gute Märtyrer von allerley Art, aber keine frü-
hen Apostel, nur in späten Erfahrungsjahren die
gründlichsten ihrer Art.
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Etwas von den Temperamenten.

Von unzaͤhligen Menſchen, die ich ſehe, koͤnnte ich nicht ſagen: „Sie haben dieß, jenes
„der vier bekannten Temperamente.“ Aber von unzaͤhligen ließe ſich, bey genauer Beobachtung,
ſagen, in welches Zehend der Skala ſie gehoͤrten, wenn man eine Leiter von 100. Graden der Em-
pfindlichkeit bey einem gewiſſen Gegenſtande annaͤhme. Jch ſage immer: bey einem gewiſſen Ge-
genſtande — denn wie in dem folgenden Aufſatz eines Freundes bemerkt werden wird — und zum
Theil eben bemerkt worden — jedes Temperament hat ſeine eigene Reizbarkeit in Hoͤhe, Tiefe u. ſ. w.
Alſo muͤßte man einen beſtimmten Punkt annehmen, gegen den ſich alle ſtellen muͤßten; der auf
ſie wirken muͤßte, ſo wie der Thermometer nur an dem Orte, wo er beſtaͤndig ſteht, beſtimmte
Anzeigen giebt.

Dieſen Punkt kann jeder annehmen, wie er will.
Jeder koͤnnte ſich ſelbſt zum Thermometer aller Temperamente machen, die auf ihn wirken.
Um dieſen Gedanken einigermaßen ſinnlich zu machen, haben wir die Adieux von Calas
nach Chodowiecki auf das Titelblatt dieſes Bandes hingeſetzt.
Das feuchteſte Temperament iſt bey dieſer Scene das unreizbarſte. (a)
Das luftige iſt bloß zu kraftloſen Thraͤnen reizbar. (b)
Das feurige — zu kraftvoller Rache. (c)
Das irrdiſche hat keine Elaſtizitaͤt; ſchwirrt nicht, ſondern wird zu Boden gedruͤckt. (d)
Der Phlegmatiker iſt rund, glatt, voll und ſitzt.
Der Sanguiniker ſteht, huͤpft, fliegt, iſt laͤnglicht rund und proportionirt.
Der Choleriker iſt eckigter, und druͤckt, und ſtampft.
Der Melancholiſche iſt eingedruͤckt und ſinkt.
Bey
(a) Aber zeigt ihm leichte Vortheile, ſeine Ruhe und
Bequemlichkeit zu vermehren, ſo iſt es reizbar zur Bieg-
ſamkeit unter alles, wenns nicht zu lange waͤhrt, doch
auch zur laͤngſten Geduld, wenn ihr die Vortheile ver-
doppelt, oder keine andere Auskunft laßt. Stoͤrt ihrs
ganz, ſo wirds hinreiſſende Ueberſchwemmung.
(b) Zu allen Luſtigkeiten desgleichen.
(c) Zu allem beſten und aͤrgſten, was nur Feuer er-
[Spaltenumbruch] fordert und naͤhrt, nur nicht zur Ruhe, außer es ſey
außerordentlich muͤde oder ekel worden auf eine
Weile.
(d) Nur reizbar zu feſter Anhaͤnglichkeit, wo feſter
Beſitz zu hoffen, zur Feſthaltnng unter allem Druck;
giebt gute Maͤrtyrer von allerley Art, aber keine fruͤ-
hen Apoſtel, nur in ſpaͤten Erfahrungsjahren die
gruͤndlichſten ihrer Art.
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[347/0409] Etwas von den Temperamenten. Von unzaͤhligen Menſchen, die ich ſehe, koͤnnte ich nicht ſagen: „Sie haben dieß, jenes „der vier bekannten Temperamente.“ Aber von unzaͤhligen ließe ſich, bey genauer Beobachtung, ſagen, in welches Zehend der Skala ſie gehoͤrten, wenn man eine Leiter von 100. Graden der Em- pfindlichkeit bey einem gewiſſen Gegenſtande annaͤhme. Jch ſage immer: bey einem gewiſſen Ge- genſtande — denn wie in dem folgenden Aufſatz eines Freundes bemerkt werden wird — und zum Theil eben bemerkt worden — jedes Temperament hat ſeine eigene Reizbarkeit in Hoͤhe, Tiefe u. ſ. w. Alſo muͤßte man einen beſtimmten Punkt annehmen, gegen den ſich alle ſtellen muͤßten; der auf ſie wirken muͤßte, ſo wie der Thermometer nur an dem Orte, wo er beſtaͤndig ſteht, beſtimmte Anzeigen giebt. Dieſen Punkt kann jeder annehmen, wie er will. Jeder koͤnnte ſich ſelbſt zum Thermometer aller Temperamente machen, die auf ihn wirken. Um dieſen Gedanken einigermaßen ſinnlich zu machen, haben wir die Adieux von Calas nach Chodowiecki auf das Titelblatt dieſes Bandes hingeſetzt. Das feuchteſte Temperament iſt bey dieſer Scene das unreizbarſte. (a) Das luftige iſt bloß zu kraftloſen Thraͤnen reizbar. (b) Das feurige — zu kraftvoller Rache. (c) Das irrdiſche hat keine Elaſtizitaͤt; ſchwirrt nicht, ſondern wird zu Boden gedruͤckt. (d) Der Phlegmatiker iſt rund, glatt, voll und ſitzt. Der Sanguiniker ſteht, huͤpft, fliegt, iſt laͤnglicht rund und proportionirt. Der Choleriker iſt eckigter, und druͤckt, und ſtampft. Der Melancholiſche iſt eingedruͤckt und ſinkt. Bey (a) Aber zeigt ihm leichte Vortheile, ſeine Ruhe und Bequemlichkeit zu vermehren, ſo iſt es reizbar zur Bieg- ſamkeit unter alles, wenns nicht zu lange waͤhrt, doch auch zur laͤngſten Geduld, wenn ihr die Vortheile ver- doppelt, oder keine andere Auskunft laßt. Stoͤrt ihrs ganz, ſo wirds hinreiſſende Ueberſchwemmung. (b) Zu allen Luſtigkeiten desgleichen. (c) Zu allem beſten und aͤrgſten, was nur Feuer er- fordert und naͤhrt, nur nicht zur Ruhe, außer es ſey außerordentlich muͤde oder ekel worden auf eine Weile. (d) Nur reizbar zu feſter Anhaͤnglichkeit, wo feſter Beſitz zu hoffen, zur Feſthaltnng unter allem Druck; giebt gute Maͤrtyrer von allerley Art, aber keine fruͤ- hen Apoſtel, nur in ſpaͤten Erfahrungsjahren die gruͤndlichſten ihrer Art. X x 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/409>, abgerufen am 23.11.2024.