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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. I. Fragment.
nicht Ursache, oder Wirkung, oder beydes, was weiß ich? -- Anzeige gewiß ist -- von einem fei-
nen, scharfsichtigen, vielfassenden Geiste -- der zergliedert, und wieder zusammenfügt; ferne vor-
aussieht -- lange vorbereitet, anbahnet, vorausrechnet -- mächtig ist zu verschließen, was er
verschließen will -- und nur so viel herauszugeben, als er herausgeben will; -- wenn dieser Stirn-
bogen, diese Stirnecke, wenn dieser scharf beschnittne, verschloßne Mund, dieß bestimmte Kinn,
nicht große Entwürfe bildet, bilden kann wenigstens; -- dieß Hinterhaupt nicht Festigkeit, die man-
chem Schwachen Hartsinn scheinen muß, nicht durchsetzende Entschlossenheit zeigt, und in sich faßt;
wirklich so steht es schlimm mit der Physiognomik -- aber auf aller Physiognomen, und Un- und
Antiphysiognomisten Urtheil will ichs ankommen lassen; ob irgend einer beym Anblicke dieses Gesich-
tes sagen dürfte -- "dumme Stirn! dummes Aug! dummer Mund!" -- Ob irgend einer sey, der
sich verwundern werde, wenn man ihm von diesem Gesichte sagt -- "Es hat an Klugheit und Scharf-
"sinn wenige seines gleichen."

Sie fühlen's, redlicher Gegner! ich weiß es, Sie fühlen's in diesem Augenblicke, daß es,
ganz unabhängig von der Bewegung der Muskeln, von dem Feuer der Augen, von der Farbe des
Gesichtes, von Gebärden und Stellung, vom Sprechen und Handeln unabhängig, eine Physiogno-
mik der festen Theile, der Gränzumrisse, eine Physiognomik der Talente giebt, die auch auf
schlafenden, auf gestorbenen Gesichtern lesen könnte -- die auf diesem Gesichte alles das noch als
den natürlichen Zustand lesen würde, wenn auch durch irgend einen Zufall der Geist seine Kraft und
Gesundheit verlöre. -- O mein scharfsinniger Gegner, wie gerne möcht' ich Jhre Behauptung nur
durch Sie selbst widerlegen! Was bedürft' es weiter, als meinen Lesern Jhr Gesicht im Schlafe
zu zeigen? als den Umriß Jhrer Stirn vom höchsten Punkte bis zum äußersten des Augknochens
herab nur mit einem Finger zu berühren? -- Jch habe nicht das Vergnügen Sie zu kennen; ich
habe nie keinerley Art von Bild, auch keinen Schattenriß von Jhnen gesehen -- aber ich bin so voll-
kommen gewiß, als ob ich Sie gesehen hätte, daß schon eine bloße Silhouette von Jhrem
Profile -- oder auch nur von drey Viertel Jhres Gesichtes, mich und alle meine aufmerksamen Le-
ser, ohne alle anderweitige Anzeige, die Wahrheit aufs Neue fühlen lassen würde -- "Talent
"und Genie lassen sich an den festen Theilen des Gesichtes mit Zuverlässigkeit erkennen."

Zum Beschlusse unserer Jnduktion nur noch drey Fragmente von halben Umrissen.

Es

I. Abſchnitt. I. Fragment.
nicht Urſache, oder Wirkung, oder beydes, was weiß ich? — Anzeige gewiß iſt — von einem fei-
nen, ſcharfſichtigen, vielfaſſenden Geiſte — der zergliedert, und wieder zuſammenfuͤgt; ferne vor-
ausſieht — lange vorbereitet, anbahnet, vorausrechnet — maͤchtig iſt zu verſchließen, was er
verſchließen will — und nur ſo viel herauszugeben, als er herausgeben will; — wenn dieſer Stirn-
bogen, dieſe Stirnecke, wenn dieſer ſcharf beſchnittne, verſchloßne Mund, dieß beſtimmte Kinn,
nicht große Entwuͤrfe bildet, bilden kann wenigſtens; — dieß Hinterhaupt nicht Feſtigkeit, die man-
chem Schwachen Hartſinn ſcheinen muß, nicht durchſetzende Entſchloſſenheit zeigt, und in ſich faßt;
wirklich ſo ſteht es ſchlimm mit der Phyſiognomik — aber auf aller Phyſiognomen, und Un- und
Antiphyſiognomiſten Urtheil will ichs ankommen laſſen; ob irgend einer beym Anblicke dieſes Geſich-
tes ſagen duͤrfte — „dumme Stirn! dummes Aug! dummer Mund!“ — Ob irgend einer ſey, der
ſich verwundern werde, wenn man ihm von dieſem Geſichte ſagt — „Es hat an Klugheit und Scharf-
„ſinn wenige ſeines gleichen.“

Sie fuͤhlen’s, redlicher Gegner! ich weiß es, Sie fuͤhlen’s in dieſem Augenblicke, daß es,
ganz unabhaͤngig von der Bewegung der Muskeln, von dem Feuer der Augen, von der Farbe des
Geſichtes, von Gebaͤrden und Stellung, vom Sprechen und Handeln unabhaͤngig, eine Phyſiogno-
mik der feſten Theile, der Graͤnzumriſſe, eine Phyſiognomik der Talente giebt, die auch auf
ſchlafenden, auf geſtorbenen Geſichtern leſen koͤnnte — die auf dieſem Geſichte alles das noch als
den natuͤrlichen Zuſtand leſen wuͤrde, wenn auch durch irgend einen Zufall der Geiſt ſeine Kraft und
Geſundheit verloͤre. — O mein ſcharfſinniger Gegner, wie gerne moͤcht’ ich Jhre Behauptung nur
durch Sie ſelbſt widerlegen! Was beduͤrft’ es weiter, als meinen Leſern Jhr Geſicht im Schlafe
zu zeigen? als den Umriß Jhrer Stirn vom hoͤchſten Punkte bis zum aͤußerſten des Augknochens
herab nur mit einem Finger zu beruͤhren? — Jch habe nicht das Vergnuͤgen Sie zu kennen; ich
habe nie keinerley Art von Bild, auch keinen Schattenriß von Jhnen geſehen — aber ich bin ſo voll-
kommen gewiß, als ob ich Sie geſehen haͤtte, daß ſchon eine bloße Silhouette von Jhrem
Profile — oder auch nur von drey Viertel Jhres Geſichtes, mich und alle meine aufmerkſamen Le-
ſer, ohne alle anderweitige Anzeige, die Wahrheit aufs Neue fuͤhlen laſſen wuͤrde — „Talent
„und Genie laſſen ſich an den feſten Theilen des Geſichtes mit Zuverlaͤſſigkeit erkennen.“

Zum Beſchluſſe unſerer Jnduktion nur noch drey Fragmente von halben Umriſſen.

Es
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[22/0044] I. Abſchnitt. I. Fragment. nicht Urſache, oder Wirkung, oder beydes, was weiß ich? — Anzeige gewiß iſt — von einem fei- nen, ſcharfſichtigen, vielfaſſenden Geiſte — der zergliedert, und wieder zuſammenfuͤgt; ferne vor- ausſieht — lange vorbereitet, anbahnet, vorausrechnet — maͤchtig iſt zu verſchließen, was er verſchließen will — und nur ſo viel herauszugeben, als er herausgeben will; — wenn dieſer Stirn- bogen, dieſe Stirnecke, wenn dieſer ſcharf beſchnittne, verſchloßne Mund, dieß beſtimmte Kinn, nicht große Entwuͤrfe bildet, bilden kann wenigſtens; — dieß Hinterhaupt nicht Feſtigkeit, die man- chem Schwachen Hartſinn ſcheinen muß, nicht durchſetzende Entſchloſſenheit zeigt, und in ſich faßt; wirklich ſo ſteht es ſchlimm mit der Phyſiognomik — aber auf aller Phyſiognomen, und Un- und Antiphyſiognomiſten Urtheil will ichs ankommen laſſen; ob irgend einer beym Anblicke dieſes Geſich- tes ſagen duͤrfte — „dumme Stirn! dummes Aug! dummer Mund!“ — Ob irgend einer ſey, der ſich verwundern werde, wenn man ihm von dieſem Geſichte ſagt — „Es hat an Klugheit und Scharf- „ſinn wenige ſeines gleichen.“ Sie fuͤhlen’s, redlicher Gegner! ich weiß es, Sie fuͤhlen’s in dieſem Augenblicke, daß es, ganz unabhaͤngig von der Bewegung der Muskeln, von dem Feuer der Augen, von der Farbe des Geſichtes, von Gebaͤrden und Stellung, vom Sprechen und Handeln unabhaͤngig, eine Phyſiogno- mik der feſten Theile, der Graͤnzumriſſe, eine Phyſiognomik der Talente giebt, die auch auf ſchlafenden, auf geſtorbenen Geſichtern leſen koͤnnte — die auf dieſem Geſichte alles das noch als den natuͤrlichen Zuſtand leſen wuͤrde, wenn auch durch irgend einen Zufall der Geiſt ſeine Kraft und Geſundheit verloͤre. — O mein ſcharfſinniger Gegner, wie gerne moͤcht’ ich Jhre Behauptung nur durch Sie ſelbſt widerlegen! Was beduͤrft’ es weiter, als meinen Leſern Jhr Geſicht im Schlafe zu zeigen? als den Umriß Jhrer Stirn vom hoͤchſten Punkte bis zum aͤußerſten des Augknochens herab nur mit einem Finger zu beruͤhren? — Jch habe nicht das Vergnuͤgen Sie zu kennen; ich habe nie keinerley Art von Bild, auch keinen Schattenriß von Jhnen geſehen — aber ich bin ſo voll- kommen gewiß, als ob ich Sie geſehen haͤtte, daß ſchon eine bloße Silhouette von Jhrem Profile — oder auch nur von drey Viertel Jhres Geſichtes, mich und alle meine aufmerkſamen Le- ſer, ohne alle anderweitige Anzeige, die Wahrheit aufs Neue fuͤhlen laſſen wuͤrde — „Talent „und Genie laſſen ſich an den feſten Theilen des Geſichtes mit Zuverlaͤſſigkeit erkennen.“ Zum Beſchluſſe unſerer Jnduktion nur noch drey Fragmente von halben Umriſſen. Es

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/44>, abgerufen am 21.11.2024.