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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. I. Fragment.
Kinder der Wahrheit, wir sprechen nicht von gleichgültigen Dingen! obwohl keine Wahrheit in
der Welt, so unbedeutend sie scheinen mag, gleichgültig ist -- wir sprechen von der menschenwür-
digsten Wahrheit -- vom Menschenhaupte, dem wichtigsten, was die Erde hat! -- von Bestim-
mung der Menschenfähigkeiten, der wichtigsten Bestimmung, die auf Erden gemacht werden kann;
von Gottes verborgener Weisheit und Wahrheit, die offenbar werden soll und kann -- in uns und
unsers gleichen -- Hier gleichgültig und kalt zu thun, wäre, wenigstens für mich, die schiefste, un-
würdigste Affektation. -- -- Wenn das, was ich sage, mir Wahrheit ist -- und daß es mir das
sey, muß jeder sehen, der mir Nachversuche machen will -- so muß es mir sehr wichtige Wahr-
heit seyn. Also bleibt mir nichts übrig, als: dir, mathematischer Wahrheitsfreund -- die Bitte
zu wiederholen: Miß! -- Miß ein Dutzend oder halb Dutzend Köpfe, die du sonst als große na-
türliche Genies, oder große natürliche Thoren kennest, auf meine Weise, oder wie du sonst willst;
itzt kann ich mir selbst nicht weiter vorgreifen -- um diese Sache hier ins völligste Licht zu setzen, da
die nähern Bestimmungen davon einem besondern Werke vorbehalten sind -- aber diesen Wink
konnt' ich nicht ungegeben lassen. -- Wem's um Wahrheit zu thun ist, der wird sie finden, und sich
freuen

des panta geometrountos Theo~u.


"Ausgesuchten Silhouetten von denkenden Köpfen, sagt unser Verfasser (Seite 23.) muß
"man auch ausgesuchte von Nichtdenkenden und Narren beyfügen;" das haben wir häufig ge-
than -- "und nicht Gelehrten von sorgfältiger Erziehung einen Dorfnarren gegen über setzen" -- Und
warum nicht? -- möcht' ich fragen. Wodurch, als durch alle Arten von Entgegensetzungen, kann
man zur eignen Ueberzeugung und bestimmten Erkenntniß kommen?

"Gelehrte von sorgfältiger Erziehung" -- welche Sorgfalt der Erziehung wölbt den
Schädel des Mohren, wie des Sterne zählenden Astronoms? Wir sprechen ja von den festen Thei-
len -- was hat die Erziehung mit diesen? -- Natürliche Narren, und natürliche Genies, Nar-
ren, die's allezeit, Verstandeshelden, die's allezeit sind, (gewaltthätige Zufälle ausgenommen,) die,
dünkt mich, müssen zusammen gestellt werden; diese haben wir zusammen gestellt -- und freylich,
da mußten wir die erstern aussuchen, denn ein jeder denkender Kopf ist gewissermaßen ein ausge-

suchter

I. Abſchnitt. I. Fragment.
Kinder der Wahrheit, wir ſprechen nicht von gleichguͤltigen Dingen! obwohl keine Wahrheit in
der Welt, ſo unbedeutend ſie ſcheinen mag, gleichguͤltig iſt — wir ſprechen von der menſchenwuͤr-
digſten Wahrheit — vom Menſchenhaupte, dem wichtigſten, was die Erde hat! — von Beſtim-
mung der Menſchenfaͤhigkeiten, der wichtigſten Beſtimmung, die auf Erden gemacht werden kann;
von Gottes verborgener Weisheit und Wahrheit, die offenbar werden ſoll und kann — in uns und
unſers gleichen — Hier gleichguͤltig und kalt zu thun, waͤre, wenigſtens fuͤr mich, die ſchiefſte, un-
wuͤrdigſte Affektation. — — Wenn das, was ich ſage, mir Wahrheit iſt — und daß es mir das
ſey, muß jeder ſehen, der mir Nachverſuche machen will — ſo muß es mir ſehr wichtige Wahr-
heit ſeyn. Alſo bleibt mir nichts uͤbrig, als: dir, mathematiſcher Wahrheitsfreund — die Bitte
zu wiederholen: Miß! — Miß ein Dutzend oder halb Dutzend Koͤpfe, die du ſonſt als große na-
tuͤrliche Genies, oder große natuͤrliche Thoren kenneſt, auf meine Weiſe, oder wie du ſonſt willſt;
itzt kann ich mir ſelbſt nicht weiter vorgreifen — um dieſe Sache hier ins voͤlligſte Licht zu ſetzen, da
die naͤhern Beſtimmungen davon einem beſondern Werke vorbehalten ſind — aber dieſen Wink
konnt’ ich nicht ungegeben laſſen. — Wem’s um Wahrheit zu thun iſt, der wird ſie finden, und ſich
freuen

des πάντα γεωμετροῦντος Θεο῀υ.


„Ausgeſuchten Silhouetten von denkenden Koͤpfen, ſagt unſer Verfaſſer (Seite 23.) muß
„man auch ausgeſuchte von Nichtdenkenden und Narren beyfuͤgen;“ das haben wir haͤufig ge-
than — „und nicht Gelehrten von ſorgfaͤltiger Erziehung einen Dorfnarren gegen uͤber ſetzen“ — Und
warum nicht? — moͤcht’ ich fragen. Wodurch, als durch alle Arten von Entgegenſetzungen, kann
man zur eignen Ueberzeugung und beſtimmten Erkenntniß kommen?

„Gelehrte von ſorgfaͤltiger Erziehung“ — welche Sorgfalt der Erziehung woͤlbt den
Schaͤdel des Mohren, wie des Sterne zaͤhlenden Aſtronoms? Wir ſprechen ja von den feſten Thei-
len — was hat die Erziehung mit dieſen? — Natuͤrliche Narren, und natuͤrliche Genies, Nar-
ren, die’s allezeit, Verſtandeshelden, die’s allezeit ſind, (gewaltthaͤtige Zufaͤlle ausgenommen,) die,
duͤnkt mich, muͤſſen zuſammen geſtellt werden; dieſe haben wir zuſammen geſtellt — und freylich,
da mußten wir die erſtern ausſuchen, denn ein jeder denkender Kopf iſt gewiſſermaßen ein ausge-

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[26/0048] I. Abſchnitt. I. Fragment. Kinder der Wahrheit, wir ſprechen nicht von gleichguͤltigen Dingen! obwohl keine Wahrheit in der Welt, ſo unbedeutend ſie ſcheinen mag, gleichguͤltig iſt — wir ſprechen von der menſchenwuͤr- digſten Wahrheit — vom Menſchenhaupte, dem wichtigſten, was die Erde hat! — von Beſtim- mung der Menſchenfaͤhigkeiten, der wichtigſten Beſtimmung, die auf Erden gemacht werden kann; von Gottes verborgener Weisheit und Wahrheit, die offenbar werden ſoll und kann — in uns und unſers gleichen — Hier gleichguͤltig und kalt zu thun, waͤre, wenigſtens fuͤr mich, die ſchiefſte, un- wuͤrdigſte Affektation. — — Wenn das, was ich ſage, mir Wahrheit iſt — und daß es mir das ſey, muß jeder ſehen, der mir Nachverſuche machen will — ſo muß es mir ſehr wichtige Wahr- heit ſeyn. Alſo bleibt mir nichts uͤbrig, als: dir, mathematiſcher Wahrheitsfreund — die Bitte zu wiederholen: Miß! — Miß ein Dutzend oder halb Dutzend Koͤpfe, die du ſonſt als große na- tuͤrliche Genies, oder große natuͤrliche Thoren kenneſt, auf meine Weiſe, oder wie du ſonſt willſt; itzt kann ich mir ſelbſt nicht weiter vorgreifen — um dieſe Sache hier ins voͤlligſte Licht zu ſetzen, da die naͤhern Beſtimmungen davon einem beſondern Werke vorbehalten ſind — aber dieſen Wink konnt’ ich nicht ungegeben laſſen. — Wem’s um Wahrheit zu thun iſt, der wird ſie finden, und ſich freuen des πάντα γεωμετροῦντος Θεο῀υ. „Ausgeſuchten Silhouetten von denkenden Koͤpfen, ſagt unſer Verfaſſer (Seite 23.) muß „man auch ausgeſuchte von Nichtdenkenden und Narren beyfuͤgen;“ das haben wir haͤufig ge- than — „und nicht Gelehrten von ſorgfaͤltiger Erziehung einen Dorfnarren gegen uͤber ſetzen“ — Und warum nicht? — moͤcht’ ich fragen. Wodurch, als durch alle Arten von Entgegenſetzungen, kann man zur eignen Ueberzeugung und beſtimmten Erkenntniß kommen? „Gelehrte von ſorgfaͤltiger Erziehung“ — welche Sorgfalt der Erziehung woͤlbt den Schaͤdel des Mohren, wie des Sterne zaͤhlenden Aſtronoms? Wir ſprechen ja von den feſten Thei- len — was hat die Erziehung mit dieſen? — Natuͤrliche Narren, und natuͤrliche Genies, Nar- ren, die’s allezeit, Verſtandeshelden, die’s allezeit ſind, (gewaltthaͤtige Zufaͤlle ausgenommen,) die, duͤnkt mich, muͤſſen zuſammen geſtellt werden; dieſe haben wir zuſammen geſtellt — und freylich, da mußten wir die erſtern ausſuchen, denn ein jeder denkender Kopf iſt gewiſſermaßen ein ausge- ſuchter

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/48>, abgerufen am 21.11.2024.