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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. I. Fragment.
"aus für die Physiognomik ohne nähere Bestimmung nichts; da eben dieses Lesen auf der Oberfläche
"die Quelle aller unserer Jrrthümer und in manchen Dingen unserer gänzlichen Unwissenheit ist."

Es ist nun einmal unsere Natur, schlechterdings nur auf der Oberfläche lesen zu können.
Dieß Lesen auf der Oberfläche, die doch immer in einer Welt ohne Wunder, ein bestimmtes
Verhältniß zu ihrem Jnnwendigen, wovon sie die Gränze ist, haben muß, dieß Lesen auf der Ober-
fläche verdächtig machen -- was heißt das anders, als: alles Wissen, Lernen, Sehen, Erkennen
durchaus verdächtig machen? -- Sogar alle Zergliederungen geben uns weiter nichts als neue
Oberflächen
-- Alle unsere Wahrheit -- muß Wahrheit der Oberfläche seyn. Nicht das Le-
sen
auf der Oberfläche ist die Quelle unserer Jrrthümer -- sonst müßte es gar keine Wahrheit
für uns geben.
Sondern das Nichtlesen, oder welches eben so viel ist: das Nichtrechtlesen.
"Denn wenn eine Erbse ins mittelländische Meer hingeworfen, auch auf die Oberfläche desselben
"eine Aenderung bewirkt, die bis an die chinesische Küste fortgeht;" -- so ist die Schuld aller Fehl-
schlüsse, die wir in Ansehung der Wirkung dieser Erbse machen, nicht, daß wir nur auf der Ober-
fläche lesen, sondern, daß wir nicht darauf lesen können.

"Besonders Tröstliches, sagt der Verfasser, folgt daraus, daß wir nur auf der Oberfläche
"lesen können, nichts für die Physiognomik -- ohne nähere Bestimmung." -- Solche nähere
Bestimmung aber suchen wir auf allen Blättern zu geben -- und Widerlegung von diesen wünsch-
ten wir von scharfsinnigen Beobachtern -- Aber Thatsachen gegen Thatsachen. "Wenn das Jn-
"nere auf dem Aeußern abgedruckt ist" -- fährt unser Verfasser fort, und scheint also die Mög-
lichkeit dessen zuzugeben, und wenn er's zugiebt: Jst dann die Oberfläche nicht Buchstabe des Jn-
nern? Giebt es dann keine Physiognomik der festen Theile?

"Aber wenn das Jnnere auf dem Aeußern abgedruckt ist, sagt er -- steht es deswegen für
"unsere Augen da?" --

Darf ich meinen Augen trauen, diese Worte von einem Philosophen zu lesen?

Was wir sehen, sehen wir, steh es nun da zum Sehen, oder nicht. Die Hauptfrage wird
immer seyn -- Sehen wir? Und daß wir sehen -- daß der Verfasser sehe, wo er sehen will, zeugt
diese Abhandlung, zeugen gedruckte und ungedruckte Schriften des Verfassers -- Doch dem sey,
wie ihm wolle -- Jch weiß nicht, wie es allen unsern Philosophen, und aller unserer Philosophie

gehen

I. Abſchnitt. I. Fragment.
„aus fuͤr die Phyſiognomik ohne naͤhere Beſtimmung nichts; da eben dieſes Leſen auf der Oberflaͤche
„die Quelle aller unſerer Jrrthuͤmer und in manchen Dingen unſerer gaͤnzlichen Unwiſſenheit iſt.“

Es iſt nun einmal unſere Natur, ſchlechterdings nur auf der Oberflaͤche leſen zu koͤnnen.
Dieß Leſen auf der Oberflaͤche, die doch immer in einer Welt ohne Wunder, ein beſtimmtes
Verhaͤltniß zu ihrem Jnnwendigen, wovon ſie die Graͤnze iſt, haben muß, dieß Leſen auf der Ober-
flaͤche verdaͤchtig machen — was heißt das anders, als: alles Wiſſen, Lernen, Sehen, Erkennen
durchaus verdaͤchtig machen? — Sogar alle Zergliederungen geben uns weiter nichts als neue
Oberflaͤchen
— Alle unſere Wahrheit — muß Wahrheit der Oberflaͤche ſeyn. Nicht das Le-
ſen
auf der Oberflaͤche iſt die Quelle unſerer Jrrthuͤmer — ſonſt muͤßte es gar keine Wahrheit
fuͤr uns geben.
Sondern das Nichtleſen, oder welches eben ſo viel iſt: das Nichtrechtleſen.
„Denn wenn eine Erbſe ins mittellaͤndiſche Meer hingeworfen, auch auf die Oberflaͤche deſſelben
„eine Aenderung bewirkt, die bis an die chineſiſche Kuͤſte fortgeht;“ — ſo iſt die Schuld aller Fehl-
ſchluͤſſe, die wir in Anſehung der Wirkung dieſer Erbſe machen, nicht, daß wir nur auf der Ober-
flaͤche leſen, ſondern, daß wir nicht darauf leſen koͤnnen.

„Beſonders Troͤſtliches, ſagt der Verfaſſer, folgt daraus, daß wir nur auf der Oberflaͤche
„leſen koͤnnen, nichts fuͤr die Phyſiognomik — ohne naͤhere Beſtimmung.“ — Solche naͤhere
Beſtimmung aber ſuchen wir auf allen Blaͤttern zu geben — und Widerlegung von dieſen wuͤnſch-
ten wir von ſcharfſinnigen Beobachtern — Aber Thatſachen gegen Thatſachen. „Wenn das Jn-
„nere auf dem Aeußern abgedruckt iſt“ — faͤhrt unſer Verfaſſer fort, und ſcheint alſo die Moͤg-
lichkeit deſſen zuzugeben, und wenn er’s zugiebt: Jſt dann die Oberflaͤche nicht Buchſtabe des Jn-
nern? Giebt es dann keine Phyſiognomik der feſten Theile?

„Aber wenn das Jnnere auf dem Aeußern abgedruckt iſt, ſagt er — ſteht es deswegen fuͤr
„unſere Augen da?“ —

Darf ich meinen Augen trauen, dieſe Worte von einem Philoſophen zu leſen?

Was wir ſehen, ſehen wir, ſteh es nun da zum Sehen, oder nicht. Die Hauptfrage wird
immer ſeyn — Sehen wir? Und daß wir ſehen — daß der Verfaſſer ſehe, wo er ſehen will, zeugt
dieſe Abhandlung, zeugen gedruckte und ungedruckte Schriften des Verfaſſers — Doch dem ſey,
wie ihm wolle — Jch weiß nicht, wie es allen unſern Philoſophen, und aller unſerer Philoſophie

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[28/0050] I. Abſchnitt. I. Fragment. „aus fuͤr die Phyſiognomik ohne naͤhere Beſtimmung nichts; da eben dieſes Leſen auf der Oberflaͤche „die Quelle aller unſerer Jrrthuͤmer und in manchen Dingen unſerer gaͤnzlichen Unwiſſenheit iſt.“ Es iſt nun einmal unſere Natur, ſchlechterdings nur auf der Oberflaͤche leſen zu koͤnnen. Dieß Leſen auf der Oberflaͤche, die doch immer in einer Welt ohne Wunder, ein beſtimmtes Verhaͤltniß zu ihrem Jnnwendigen, wovon ſie die Graͤnze iſt, haben muß, dieß Leſen auf der Ober- flaͤche verdaͤchtig machen — was heißt das anders, als: alles Wiſſen, Lernen, Sehen, Erkennen durchaus verdaͤchtig machen? — Sogar alle Zergliederungen geben uns weiter nichts als neue Oberflaͤchen — Alle unſere Wahrheit — muß Wahrheit der Oberflaͤche ſeyn. Nicht das Le- ſen auf der Oberflaͤche iſt die Quelle unſerer Jrrthuͤmer — ſonſt muͤßte es gar keine Wahrheit fuͤr uns geben. Sondern das Nichtleſen, oder welches eben ſo viel iſt: das Nichtrechtleſen. „Denn wenn eine Erbſe ins mittellaͤndiſche Meer hingeworfen, auch auf die Oberflaͤche deſſelben „eine Aenderung bewirkt, die bis an die chineſiſche Kuͤſte fortgeht;“ — ſo iſt die Schuld aller Fehl- ſchluͤſſe, die wir in Anſehung der Wirkung dieſer Erbſe machen, nicht, daß wir nur auf der Ober- flaͤche leſen, ſondern, daß wir nicht darauf leſen koͤnnen. „Beſonders Troͤſtliches, ſagt der Verfaſſer, folgt daraus, daß wir nur auf der Oberflaͤche „leſen koͤnnen, nichts fuͤr die Phyſiognomik — ohne naͤhere Beſtimmung.“ — Solche naͤhere Beſtimmung aber ſuchen wir auf allen Blaͤttern zu geben — und Widerlegung von dieſen wuͤnſch- ten wir von ſcharfſinnigen Beobachtern — Aber Thatſachen gegen Thatſachen. „Wenn das Jn- „nere auf dem Aeußern abgedruckt iſt“ — faͤhrt unſer Verfaſſer fort, und ſcheint alſo die Moͤg- lichkeit deſſen zuzugeben, und wenn er’s zugiebt: Jſt dann die Oberflaͤche nicht Buchſtabe des Jn- nern? Giebt es dann keine Phyſiognomik der feſten Theile? „Aber wenn das Jnnere auf dem Aeußern abgedruckt iſt, ſagt er — ſteht es deswegen fuͤr „unſere Augen da?“ — Darf ich meinen Augen trauen, dieſe Worte von einem Philoſophen zu leſen? Was wir ſehen, ſehen wir, ſteh es nun da zum Sehen, oder nicht. Die Hauptfrage wird immer ſeyn — Sehen wir? Und daß wir ſehen — daß der Verfaſſer ſehe, wo er ſehen will, zeugt dieſe Abhandlung, zeugen gedruckte und ungedruckte Schriften des Verfaſſers — Doch dem ſey, wie ihm wolle — Jch weiß nicht, wie es allen unſern Philoſophen, und aller unſerer Philoſophie gehen

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/50>, abgerufen am 29.04.2024.