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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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VIII. Abschnitt. VIII. Fragment.

1. Karrikatur oder Jdeal? vom König in Preußen -- Karrikatur, weil so viel von der
Großheit; Jdeal, weil so viel von den Zügen des Alters seiner natürlichen Physiognomie in diesem
Gesichte mangelt. Großheit liegt immer noch, aber gewiß nicht genug auf dem beynahe geraden
und dennoch so schiefen Umriß der Stirn und der Nase. Der Mund ist nicht wahr; versüßt; ver-
kleinlicht.

2. Sein Bruder, Prinz Heinrich! Welche Verschiedenheit des Profils! welcher Muth
in den großen Augen -- welch kriegerischer Gefahr und Weisheit verachtender Trutz in der Nase!

3. Churfürst Friedrich Wilhelm, der Große! Ja, wirklich groß! stolz, unternehmend,
durchdringend! wie erstaunlich viel liegt in diesem scharf treffenden, festen Augenstern und Blicke!
welche unverkennbare Größe in dem Profile der Stirn und der heldenhaft vordringenden Nase!
welches Bewußtseyn, welches Gefühl seiner selbst, welche ruhige Festigkeit und tiefe Betriebsam-
keit in diesem Munde -- welcher Stolz und welche Genügsamkeit in diesem Kinne! welcher Adel,
welche Stärke in diesem Haar! Er lächelt den Königen und den Gefahren um sich her, und spricht
bey sich selber: "So soll's seyn!"

4. Und nun der treffliche Heinrich der IV. -- scheint in der Stirne mehr Vernunft, im
Auge mehr Erhabenheit, in der Nase ein wenig mehr Feinheit, im Munde mehr Adel, im Kinne
mehr Größe zu haben. Kann man sich eine schönere, das ist, eine Ausdrucksvollere, männlich
edlere Gesichtsform -- gedenken? -- Und so perpendikulär steht der Kopf, ohne Anstrengung auf
diesem ehernen Hals -- Ein fortgehender Stamm! wie trefflich steht das Ohr an seinem Orte und
dem reinsten Verhältnisse! --

O einen solchen Mann im Leben zu sehen -- und mit physiognomischem Durst aus seinem
Antlitze zu trinken, wer kann sich ein menschlicheres Vergnügen denken?

5. Carl der XII. Auch wieder ein herrliches Heldengesicht! So schön, so harmonisch! so
rein von aller Bürgerlichkeit. Aber freylich nicht Carls Gesicht! nicht sein diese kurze Stirn! dieß
offne hindurch pfeilende Auge! -- Die kleine Erhöhung auf dem Rücken dieser geraden Nase --
wie viel Großes scheint darauf zu schweben! Erstaunlich viel Adel in der Spitze der Nase! (aber
nicht Carls Gewaltsnase!) Jn dem Umrisse und der trefflichen Fügung der Lippen -- und dann
wieder: welche Harmonie im Ganzen -- wie viel Freyheit und Kühnheit und Einfachheit in die-
sem Umrisse! -- Wie einer ist, so thut er auch -- sagte einst ein schwedisch pommerscher Junge,
eines Pachters Sohn, da er ihm des Nachts ein Pferd leihen, und ihn, um das Pferd zurückzu-
nehmen, begleiten -- ihm oft durch Sumpf und Bäche schier außer Odem nachlaufen mußte, und
mehrmals mit Koth bespritzt war -- Ja! -- Wie einer ist, so thut er auch -- herrlich phy-

siognomisches
VIII. Abſchnitt. VIII. Fragment.

1. Karrikatur oder Jdeal? vom Koͤnig in Preußen — Karrikatur, weil ſo viel von der
Großheit; Jdeal, weil ſo viel von den Zuͤgen des Alters ſeiner natuͤrlichen Phyſiognomie in dieſem
Geſichte mangelt. Großheit liegt immer noch, aber gewiß nicht genug auf dem beynahe geraden
und dennoch ſo ſchiefen Umriß der Stirn und der Naſe. Der Mund iſt nicht wahr; verſuͤßt; ver-
kleinlicht.

2. Sein Bruder, Prinz Heinrich! Welche Verſchiedenheit des Profils! welcher Muth
in den großen Augen — welch kriegeriſcher Gefahr und Weisheit verachtender Trutz in der Naſe!

3. Churfuͤrſt Friedrich Wilhelm, der Große! Ja, wirklich groß! ſtolz, unternehmend,
durchdringend! wie erſtaunlich viel liegt in dieſem ſcharf treffenden, feſten Augenſtern und Blicke!
welche unverkennbare Groͤße in dem Profile der Stirn und der heldenhaft vordringenden Naſe!
welches Bewußtſeyn, welches Gefuͤhl ſeiner ſelbſt, welche ruhige Feſtigkeit und tiefe Betriebſam-
keit in dieſem Munde — welcher Stolz und welche Genuͤgſamkeit in dieſem Kinne! welcher Adel,
welche Staͤrke in dieſem Haar! Er laͤchelt den Koͤnigen und den Gefahren um ſich her, und ſpricht
bey ſich ſelber: „So ſoll’s ſeyn!“

4. Und nun der treffliche Heinrich der IV. — ſcheint in der Stirne mehr Vernunft, im
Auge mehr Erhabenheit, in der Naſe ein wenig mehr Feinheit, im Munde mehr Adel, im Kinne
mehr Groͤße zu haben. Kann man ſich eine ſchoͤnere, das iſt, eine Ausdrucksvollere, maͤnnlich
edlere Geſichtsform — gedenken? — Und ſo perpendikulaͤr ſteht der Kopf, ohne Anſtrengung auf
dieſem ehernen Hals — Ein fortgehender Stamm! wie trefflich ſteht das Ohr an ſeinem Orte und
dem reinſten Verhaͤltniſſe! —

O einen ſolchen Mann im Leben zu ſehen — und mit phyſiognomiſchem Durſt aus ſeinem
Antlitze zu trinken, wer kann ſich ein menſchlicheres Vergnuͤgen denken?

5. Carl der XII. Auch wieder ein herrliches Heldengeſicht! So ſchoͤn, ſo harmoniſch! ſo
rein von aller Buͤrgerlichkeit. Aber freylich nicht Carls Geſicht! nicht ſein dieſe kurze Stirn! dieß
offne hindurch pfeilende Auge! — Die kleine Erhoͤhung auf dem Ruͤcken dieſer geraden Naſe —
wie viel Großes ſcheint darauf zu ſchweben! Erſtaunlich viel Adel in der Spitze der Naſe! (aber
nicht Carls Gewaltsnaſe!) Jn dem Umriſſe und der trefflichen Fuͤgung der Lippen — und dann
wieder: welche Harmonie im Ganzen — wie viel Freyheit und Kuͤhnheit und Einfachheit in die-
ſem Umriſſe! — Wie einer iſt, ſo thut er auch — ſagte einſt ein ſchwediſch pommerſcher Junge,
eines Pachters Sohn, da er ihm des Nachts ein Pferd leihen, und ihn, um das Pferd zuruͤckzu-
nehmen, begleiten — ihm oft durch Sumpf und Baͤche ſchier außer Odem nachlaufen mußte, und
mehrmals mit Koth beſpritzt war — Ja! — Wie einer iſt, ſo thut er auch — herrlich phy-

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[410/0510] VIII. Abſchnitt. VIII. Fragment. 1. Karrikatur oder Jdeal? vom Koͤnig in Preußen — Karrikatur, weil ſo viel von der Großheit; Jdeal, weil ſo viel von den Zuͤgen des Alters ſeiner natuͤrlichen Phyſiognomie in dieſem Geſichte mangelt. Großheit liegt immer noch, aber gewiß nicht genug auf dem beynahe geraden und dennoch ſo ſchiefen Umriß der Stirn und der Naſe. Der Mund iſt nicht wahr; verſuͤßt; ver- kleinlicht. 2. Sein Bruder, Prinz Heinrich! Welche Verſchiedenheit des Profils! welcher Muth in den großen Augen — welch kriegeriſcher Gefahr und Weisheit verachtender Trutz in der Naſe! 3. Churfuͤrſt Friedrich Wilhelm, der Große! Ja, wirklich groß! ſtolz, unternehmend, durchdringend! wie erſtaunlich viel liegt in dieſem ſcharf treffenden, feſten Augenſtern und Blicke! welche unverkennbare Groͤße in dem Profile der Stirn und der heldenhaft vordringenden Naſe! welches Bewußtſeyn, welches Gefuͤhl ſeiner ſelbſt, welche ruhige Feſtigkeit und tiefe Betriebſam- keit in dieſem Munde — welcher Stolz und welche Genuͤgſamkeit in dieſem Kinne! welcher Adel, welche Staͤrke in dieſem Haar! Er laͤchelt den Koͤnigen und den Gefahren um ſich her, und ſpricht bey ſich ſelber: „So ſoll’s ſeyn!“ 4. Und nun der treffliche Heinrich der IV. — ſcheint in der Stirne mehr Vernunft, im Auge mehr Erhabenheit, in der Naſe ein wenig mehr Feinheit, im Munde mehr Adel, im Kinne mehr Groͤße zu haben. Kann man ſich eine ſchoͤnere, das iſt, eine Ausdrucksvollere, maͤnnlich edlere Geſichtsform — gedenken? — Und ſo perpendikulaͤr ſteht der Kopf, ohne Anſtrengung auf dieſem ehernen Hals — Ein fortgehender Stamm! wie trefflich ſteht das Ohr an ſeinem Orte und dem reinſten Verhaͤltniſſe! — O einen ſolchen Mann im Leben zu ſehen — und mit phyſiognomiſchem Durſt aus ſeinem Antlitze zu trinken, wer kann ſich ein menſchlicheres Vergnuͤgen denken? 5. Carl der XII. Auch wieder ein herrliches Heldengeſicht! So ſchoͤn, ſo harmoniſch! ſo rein von aller Buͤrgerlichkeit. Aber freylich nicht Carls Geſicht! nicht ſein dieſe kurze Stirn! dieß offne hindurch pfeilende Auge! — Die kleine Erhoͤhung auf dem Ruͤcken dieſer geraden Naſe — wie viel Großes ſcheint darauf zu ſchweben! Erſtaunlich viel Adel in der Spitze der Naſe! (aber nicht Carls Gewaltsnaſe!) Jn dem Umriſſe und der trefflichen Fuͤgung der Lippen — und dann wieder: welche Harmonie im Ganzen — wie viel Freyheit und Kuͤhnheit und Einfachheit in die- ſem Umriſſe! — Wie einer iſt, ſo thut er auch — ſagte einſt ein ſchwediſch pommerſcher Junge, eines Pachters Sohn, da er ihm des Nachts ein Pferd leihen, und ihn, um das Pferd zuruͤckzu- nehmen, begleiten — ihm oft durch Sumpf und Baͤche ſchier außer Odem nachlaufen mußte, und mehrmals mit Koth beſpritzt war — Ja! — Wie einer iſt, ſo thut er auch — herrlich phy- ſiognomiſches

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/510>, abgerufen am 22.11.2024.