Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite
Christusbilder.
B. Dasselbe Bild von einem andern Meister.
Des IV Ban-
des LIV. Ta-
fel. I. C. b.

Siehe hier einen jungen Christus -- der sich durch vieles empfiehlt; -- und dennoch
mehr Fehler hat, als Ein Blatt fassen kann. Was macht dieß Gesicht für einen Ein-
druck auf uns? Einen nicht unangenehmen, nicht widerlichen -- Es stößt uns nicht zu-
rück -- aber ergreift es uns? erweitert es unser Herz? erhebt es uns? durchströmt es uns mit dem
Zittern der Ehrfurcht? Möchten wirs umfassen, aus Herz drücken, und -- dürfen's doch nicht,
weil stille Majestät von ihm ausgeht, -- müssen wir die Augen nicht niederschlagen? -- Jch denke
es nicht.

Gern verweilen wir auf diesem ruhevollen, sanften, unverzogenen harmonischen Gesichte.
Seine auffallende Menschlichkeit beruhigt uns, macht uns vertraulich mit sich. Wir theilen uns
ihm gern mit -- wünschen, daß der sanfte, huldreiche Mund sich öffnen, und ein Wort des Frie-
dens und des Wohlwollens in unser Herz entfließen lassen möchte. Wir erwarten nichts gemeines --
aber erwarten wir auch himmlische Salbung? Worte eines, der Gewalt hat? Ruhe der Seele --
sehen wir wohl auf allen Zügen des Gesichtes verbreitet; -- aber auch Stärke und Kraft, die Sün-
den einer Welt zu tragen? Er wird uns wohl sagen, der männliche Jüngling, den wir vor uns ha-
ben: Kommet zu mir, die ihr mühselig und beladen seyd, ich will euch Ruhe geben --
ich bin mild und von Herzen demüthig.
-- Aber wird er auch sagen, auch sagen können: Weh
euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer! Jch bin nicht gekommen Friede zu senden,
sondern das Schwert!
-- Er wird sagen: Simon Jona, liebest du mich -- aber nicht:
Der Herr wird ihn entzwey hauen, und ihm seinen Theil mit den Gleißnern geben!

Es ist freylich ein Gesicht, in welchem kein Falsch ist, keine Prätension -- ein Lammsge-
sicht; nicht dumm, aber schwach und von langsamer Wirksamkeit. Woher nun diese Schwäche?
dieß Langsame? wo der Sitz derselben? Vornehmlich überhaupt in dem Platten, Uneckigten, Un-
angespannten des Ganzen -- Besonders aber in dem Bogen des obern Augenlieds! Man denke sich
diesen horizontaler, das Augenlied weniger sichtbar, die Augenbraunen näher beym Auge, die rech-
te Augenbraune weniger stumpf abgleitend, eckigter, schärfer gegen die andre ausgebogen, wie viel
mehr Stärke und Wirksamkeit werdet ihr dem Gesichte sogleich geben! Das Gesichtgen ist zu di-
luirt, zu ausgedehnt, zu verwaschen, um den Eindruck von überwiegender majestätischer Kraft zu

machen.
Chriſtusbilder.
B. Daſſelbe Bild von einem andern Meiſter.
Des IV Ban-
des LIV. Ta-
fel. I. C. b.

Siehe hier einen jungen Chriſtus — der ſich durch vieles empfiehlt; — und dennoch
mehr Fehler hat, als Ein Blatt faſſen kann. Was macht dieß Geſicht fuͤr einen Ein-
druck auf uns? Einen nicht unangenehmen, nicht widerlichen — Es ſtoͤßt uns nicht zu-
ruͤck — aber ergreift es uns? erweitert es unſer Herz? erhebt es uns? durchſtroͤmt es uns mit dem
Zittern der Ehrfurcht? Moͤchten wirs umfaſſen, aus Herz druͤcken, und — duͤrfen’s doch nicht,
weil ſtille Majeſtaͤt von ihm ausgeht, — muͤſſen wir die Augen nicht niederſchlagen? — Jch denke
es nicht.

Gern verweilen wir auf dieſem ruhevollen, ſanften, unverzogenen harmoniſchen Geſichte.
Seine auffallende Menſchlichkeit beruhigt uns, macht uns vertraulich mit ſich. Wir theilen uns
ihm gern mit — wuͤnſchen, daß der ſanfte, huldreiche Mund ſich oͤffnen, und ein Wort des Frie-
dens und des Wohlwollens in unſer Herz entfließen laſſen moͤchte. Wir erwarten nichts gemeines —
aber erwarten wir auch himmliſche Salbung? Worte eines, der Gewalt hat? Ruhe der Seele —
ſehen wir wohl auf allen Zuͤgen des Geſichtes verbreitet; — aber auch Staͤrke und Kraft, die Suͤn-
den einer Welt zu tragen? Er wird uns wohl ſagen, der maͤnnliche Juͤngling, den wir vor uns ha-
ben: Kommet zu mir, die ihr muͤhſelig und beladen ſeyd, ich will euch Ruhe geben —
ich bin mild und von Herzen demuͤthig.
— Aber wird er auch ſagen, auch ſagen koͤnnen: Weh
euch, ihr Schriftgelehrten und Phariſaͤer! Jch bin nicht gekommen Friede zu ſenden,
ſondern das Schwert!
— Er wird ſagen: Simon Jona, liebeſt du mich — aber nicht:
Der Herr wird ihn entzwey hauen, und ihm ſeinen Theil mit den Gleißnern geben!

Es iſt freylich ein Geſicht, in welchem kein Falſch iſt, keine Praͤtenſion — ein Lammsge-
ſicht; nicht dumm, aber ſchwach und von langſamer Wirkſamkeit. Woher nun dieſe Schwaͤche?
dieß Langſame? wo der Sitz derſelben? Vornehmlich uͤberhaupt in dem Platten, Uneckigten, Un-
angeſpannten des Ganzen — Beſonders aber in dem Bogen des obern Augenlieds! Man denke ſich
dieſen horizontaler, das Augenlied weniger ſichtbar, die Augenbraunen naͤher beym Auge, die rech-
te Augenbraune weniger ſtumpf abgleitend, eckigter, ſchaͤrfer gegen die andre ausgebogen, wie viel
mehr Staͤrke und Wirkſamkeit werdet ihr dem Geſichte ſogleich geben! Das Geſichtgen iſt zu di-
luirt, zu ausgedehnt, zu verwaſchen, um den Eindruck von uͤberwiegender majeſtaͤtiſcher Kraft zu

machen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0563" n="439"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tusbilder.</hi> </hi> </fw><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">B.</hi> Da&#x017F;&#x017F;elbe Bild von einem andern Mei&#x017F;ter.</hi> </head><lb/>
              <note place="left">Des <hi rendition="#aq">IV</hi> Ban-<lb/>
des <hi rendition="#aq">LIV.</hi> Ta-<lb/>
fel. <hi rendition="#aq">I. C. b.</hi></note>
              <p><hi rendition="#in">S</hi>iehe hier einen jungen Chri&#x017F;tus &#x2014; der &#x017F;ich durch vieles empfiehlt; &#x2014; und dennoch<lb/>
mehr Fehler hat, als Ein Blatt fa&#x017F;&#x017F;en kann. Was macht dieß Ge&#x017F;icht fu&#x0364;r einen Ein-<lb/>
druck auf uns? Einen nicht unangenehmen, nicht widerlichen &#x2014; Es &#x017F;to&#x0364;ßt uns nicht zu-<lb/>
ru&#x0364;ck &#x2014; aber ergreift es uns? erweitert es un&#x017F;er Herz? erhebt es uns? durch&#x017F;tro&#x0364;mt es uns mit dem<lb/>
Zittern der Ehrfurcht? Mo&#x0364;chten wirs umfa&#x017F;&#x017F;en, aus Herz dru&#x0364;cken, und &#x2014; du&#x0364;rfen&#x2019;s doch nicht,<lb/>
weil &#x017F;tille Maje&#x017F;ta&#x0364;t von ihm ausgeht, &#x2014; mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir die Augen nicht nieder&#x017F;chlagen? &#x2014; Jch denke<lb/>
es nicht.</p><lb/>
              <p>Gern verweilen wir auf die&#x017F;em ruhevollen, &#x017F;anften, unverzogenen harmoni&#x017F;chen Ge&#x017F;ichte.<lb/>
Seine auffallende Men&#x017F;chlichkeit beruhigt uns, macht uns vertraulich mit &#x017F;ich. Wir theilen uns<lb/>
ihm gern mit &#x2014; wu&#x0364;n&#x017F;chen, daß der &#x017F;anfte, huldreiche Mund &#x017F;ich o&#x0364;ffnen, und ein Wort des Frie-<lb/>
dens und des Wohlwollens in un&#x017F;er Herz entfließen la&#x017F;&#x017F;en mo&#x0364;chte. Wir erwarten nichts gemeines &#x2014;<lb/>
aber erwarten wir auch himmli&#x017F;che Salbung? Worte eines, der Gewalt hat? Ruhe der Seele &#x2014;<lb/>
&#x017F;ehen wir wohl auf allen Zu&#x0364;gen des Ge&#x017F;ichtes verbreitet; &#x2014; aber auch Sta&#x0364;rke und Kraft, die Su&#x0364;n-<lb/>
den einer Welt zu tragen? Er wird uns wohl &#x017F;agen, der ma&#x0364;nnliche Ju&#x0364;ngling, den wir vor uns ha-<lb/>
ben: <hi rendition="#fr">Kommet zu mir, die ihr mu&#x0364;h&#x017F;elig und beladen &#x017F;eyd, ich will euch Ruhe geben &#x2014;<lb/>
ich bin mild und von Herzen demu&#x0364;thig.</hi> &#x2014; Aber wird er auch &#x017F;agen, auch &#x017F;agen ko&#x0364;nnen: <hi rendition="#fr">Weh<lb/>
euch, ihr Schriftgelehrten und Phari&#x017F;a&#x0364;er! Jch bin nicht gekommen Friede zu &#x017F;enden,<lb/>
&#x017F;ondern das Schwert!</hi> &#x2014; Er wird &#x017F;agen: <hi rendition="#fr">Simon Jona, liebe&#x017F;t du mich</hi> &#x2014; aber nicht:<lb/><hi rendition="#fr">Der Herr wird ihn entzwey hauen, und ihm &#x017F;einen Theil mit den Gleißnern geben!</hi></p><lb/>
              <p>Es i&#x017F;t freylich ein Ge&#x017F;icht, in welchem kein Fal&#x017F;ch i&#x017F;t, keine Pra&#x0364;ten&#x017F;ion &#x2014; ein Lammsge-<lb/>
&#x017F;icht; nicht dumm, aber &#x017F;chwach und von lang&#x017F;amer Wirk&#x017F;amkeit. Woher nun die&#x017F;e Schwa&#x0364;che?<lb/>
dieß Lang&#x017F;ame? wo der Sitz der&#x017F;elben? Vornehmlich u&#x0364;berhaupt in dem Platten, Uneckigten, Un-<lb/>
ange&#x017F;pannten des Ganzen &#x2014; Be&#x017F;onders aber in dem Bogen des obern Augenlieds! Man denke &#x017F;ich<lb/>
die&#x017F;en horizontaler, das Augenlied weniger &#x017F;ichtbar, die Augenbraunen na&#x0364;her beym Auge, die rech-<lb/>
te Augenbraune weniger &#x017F;tumpf abgleitend, eckigter, &#x017F;cha&#x0364;rfer gegen die andre ausgebogen, wie viel<lb/>
mehr Sta&#x0364;rke und Wirk&#x017F;amkeit werdet ihr dem Ge&#x017F;ichte &#x017F;ogleich geben! Das Ge&#x017F;ichtgen i&#x017F;t zu di-<lb/>
luirt, zu ausgedehnt, zu verwa&#x017F;chen, um den Eindruck von u&#x0364;berwiegender maje&#x017F;ta&#x0364;ti&#x017F;cher Kraft zu<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">machen.</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[439/0563] Chriſtusbilder. B. Daſſelbe Bild von einem andern Meiſter. Siehe hier einen jungen Chriſtus — der ſich durch vieles empfiehlt; — und dennoch mehr Fehler hat, als Ein Blatt faſſen kann. Was macht dieß Geſicht fuͤr einen Ein- druck auf uns? Einen nicht unangenehmen, nicht widerlichen — Es ſtoͤßt uns nicht zu- ruͤck — aber ergreift es uns? erweitert es unſer Herz? erhebt es uns? durchſtroͤmt es uns mit dem Zittern der Ehrfurcht? Moͤchten wirs umfaſſen, aus Herz druͤcken, und — duͤrfen’s doch nicht, weil ſtille Majeſtaͤt von ihm ausgeht, — muͤſſen wir die Augen nicht niederſchlagen? — Jch denke es nicht. Gern verweilen wir auf dieſem ruhevollen, ſanften, unverzogenen harmoniſchen Geſichte. Seine auffallende Menſchlichkeit beruhigt uns, macht uns vertraulich mit ſich. Wir theilen uns ihm gern mit — wuͤnſchen, daß der ſanfte, huldreiche Mund ſich oͤffnen, und ein Wort des Frie- dens und des Wohlwollens in unſer Herz entfließen laſſen moͤchte. Wir erwarten nichts gemeines — aber erwarten wir auch himmliſche Salbung? Worte eines, der Gewalt hat? Ruhe der Seele — ſehen wir wohl auf allen Zuͤgen des Geſichtes verbreitet; — aber auch Staͤrke und Kraft, die Suͤn- den einer Welt zu tragen? Er wird uns wohl ſagen, der maͤnnliche Juͤngling, den wir vor uns ha- ben: Kommet zu mir, die ihr muͤhſelig und beladen ſeyd, ich will euch Ruhe geben — ich bin mild und von Herzen demuͤthig. — Aber wird er auch ſagen, auch ſagen koͤnnen: Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Phariſaͤer! Jch bin nicht gekommen Friede zu ſenden, ſondern das Schwert! — Er wird ſagen: Simon Jona, liebeſt du mich — aber nicht: Der Herr wird ihn entzwey hauen, und ihm ſeinen Theil mit den Gleißnern geben! Es iſt freylich ein Geſicht, in welchem kein Falſch iſt, keine Praͤtenſion — ein Lammsge- ſicht; nicht dumm, aber ſchwach und von langſamer Wirkſamkeit. Woher nun dieſe Schwaͤche? dieß Langſame? wo der Sitz derſelben? Vornehmlich uͤberhaupt in dem Platten, Uneckigten, Un- angeſpannten des Ganzen — Beſonders aber in dem Bogen des obern Augenlieds! Man denke ſich dieſen horizontaler, das Augenlied weniger ſichtbar, die Augenbraunen naͤher beym Auge, die rech- te Augenbraune weniger ſtumpf abgleitend, eckigter, ſchaͤrfer gegen die andre ausgebogen, wie viel mehr Staͤrke und Wirkſamkeit werdet ihr dem Geſichte ſogleich geben! Das Geſichtgen iſt zu di- luirt, zu ausgedehnt, zu verwaſchen, um den Eindruck von uͤberwiegender majeſtaͤtiſcher Kraft zu machen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/563
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/563>, abgerufen am 27.11.2024.