Des IV Ban- des LXI. Ta- fel. Das ge- wöhnliche Christusbild.
Das allererste Original dieses fast in allen Haushaltungen sich befindenden Bildes muß gewiß von einer erhabenen Seele herrühren. Denn diese, vielleicht tausendste, Co- pie, freylich nicht die schlechteste, hat noch so viel Ausdruck von sanfter, unanmaßender, trugloser Güte, Einfalt und unbefleckter Ruhe der Seele. Dieser harmlose Friede der Unschuld ergießt sich über das ganze Gesicht, ist in der Form, ist in der Harmonie der Theile, ist ganz herrlich im Auge, herrlicher in der Nase, am herrlichsten im Munde. Wenn ich einen solchen Menschen mit solcher Ruhe erblickte, ich glaube, daß ich seine Kniee umfassen würde. Nichts frey- lich von der Superiorität der Kraft und des Genies, das wir so gern dahinein idealisirten. Und doch keine Spur von Feigheit und Schwäche. Ruhe des unraubbaren Besitzes -- Ruhe, die un- endlich mehr werth ist, als aller Enthusiasmus und alles Brausen des Genies und glänzender Thä- tigkeit! Ruhe und Demuth, die alles Göttliche, und das Göttlichste von allem Göttlichen so unnachahmlich charakterisirt! Thorheit Gottes -- wenn ich diesen kühnsten aller Ausdrücke hier brauchen darf -- Thorheit Gottes, weiser als die Menschen. Welch ein Lamm! welch un- verführbare Reinheit! welche Treue! -- Nimm die Stirn allein, Aug allein, Nase allein, Mund allein -- jedes Einzelne ist stehender Ausdruck reiner Güte. Jch neige mich vor dem Schatten des Mannes, der dieß Bild erfand, schuf, und sich in diesem Schatten erquickte. Man hört aus die- sem Munde Worte des ewigen Lebens -- Selig sind die Sanftmüthigen! die Barmherzigen! die reines Herzens sind! die Friedliebenden!
Es ist alles aus der Seele herausgesprochen. Es kann kein Betrug in diesem Munde ge- funden werden. Je mehr ich es ansehe, desto mehr liebe ich -- desto mehr zittert mein innerstes Mark nach einem Hauche dieser göttlichen Ruhe und Einfalt. O wer kann zürnen in der Gegen- wart dieser Sanftmuth? wer dieser Wahrheit lügen? -- wer, als Gewalt der Finsterniß, könnte Hände an dich legen?
Wie
Phys. Fragm.IVVersuch. L l l
Chriſtusbilder.
K. Das gewoͤhnliche Chriſtusbild, ein Umriß.
Des IV Ban- des LXI. Ta- fel. Das ge- woͤhnliche Chriſtusbild.
Das allererſte Original dieſes faſt in allen Haushaltungen ſich befindenden Bildes muß gewiß von einer erhabenen Seele herruͤhren. Denn dieſe, vielleicht tauſendſte, Co- pie, freylich nicht die ſchlechteſte, hat noch ſo viel Ausdruck von ſanfter, unanmaßender, trugloſer Guͤte, Einfalt und unbefleckter Ruhe der Seele. Dieſer harmloſe Friede der Unſchuld ergießt ſich uͤber das ganze Geſicht, iſt in der Form, iſt in der Harmonie der Theile, iſt ganz herrlich im Auge, herrlicher in der Naſe, am herrlichſten im Munde. Wenn ich einen ſolchen Menſchen mit ſolcher Ruhe erblickte, ich glaube, daß ich ſeine Kniee umfaſſen wuͤrde. Nichts frey- lich von der Superioritaͤt der Kraft und des Genies, das wir ſo gern dahinein idealiſirten. Und doch keine Spur von Feigheit und Schwaͤche. Ruhe des unraubbaren Beſitzes — Ruhe, die un- endlich mehr werth iſt, als aller Enthuſiasmus und alles Brauſen des Genies und glaͤnzender Thaͤ- tigkeit! Ruhe und Demuth, die alles Goͤttliche, und das Goͤttlichſte von allem Goͤttlichen ſo unnachahmlich charakteriſirt! Thorheit Gottes — wenn ich dieſen kuͤhnſten aller Ausdruͤcke hier brauchen darf — Thorheit Gottes, weiſer als die Menſchen. Welch ein Lamm! welch un- verfuͤhrbare Reinheit! welche Treue! — Nimm die Stirn allein, Aug allein, Naſe allein, Mund allein — jedes Einzelne iſt ſtehender Ausdruck reiner Guͤte. Jch neige mich vor dem Schatten des Mannes, der dieß Bild erfand, ſchuf, und ſich in dieſem Schatten erquickte. Man hoͤrt aus die- ſem Munde Worte des ewigen Lebens — Selig ſind die Sanftmuͤthigen! die Barmherzigen! die reines Herzens ſind! die Friedliebenden!
Es iſt alles aus der Seele herausgeſprochen. Es kann kein Betrug in dieſem Munde ge- funden werden. Je mehr ich es anſehe, deſto mehr liebe ich — deſto mehr zittert mein innerſtes Mark nach einem Hauche dieſer goͤttlichen Ruhe und Einfalt. O wer kann zuͤrnen in der Gegen- wart dieſer Sanftmuth? wer dieſer Wahrheit luͤgen? — wer, als Gewalt der Finſterniß, koͤnnte Haͤnde an dich legen?
Wie
Phyſ. Fragm.IVVerſuch. L l l
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Chriſtusbilder.
K. Das gewoͤhnliche Chriſtusbild, ein Umriß.
Das allererſte Original dieſes faſt in allen Haushaltungen ſich befindenden Bildes
muß gewiß von einer erhabenen Seele herruͤhren. Denn dieſe, vielleicht tauſendſte, Co-
pie, freylich nicht die ſchlechteſte, hat noch ſo viel Ausdruck von ſanfter, unanmaßender,
trugloſer Guͤte, Einfalt und unbefleckter Ruhe der Seele. Dieſer harmloſe Friede der
Unſchuld ergießt ſich uͤber das ganze Geſicht, iſt in der Form, iſt in der Harmonie der Theile, iſt
ganz herrlich im Auge, herrlicher in der Naſe, am herrlichſten im Munde. Wenn ich einen ſolchen
Menſchen mit ſolcher Ruhe erblickte, ich glaube, daß ich ſeine Kniee umfaſſen wuͤrde. Nichts frey-
lich von der Superioritaͤt der Kraft und des Genies, das wir ſo gern dahinein idealiſirten. Und
doch keine Spur von Feigheit und Schwaͤche. Ruhe des unraubbaren Beſitzes — Ruhe, die un-
endlich mehr werth iſt, als aller Enthuſiasmus und alles Brauſen des Genies und glaͤnzender Thaͤ-
tigkeit! Ruhe und Demuth, die alles Goͤttliche, und das Goͤttlichſte von allem Goͤttlichen ſo
unnachahmlich charakteriſirt! Thorheit Gottes — wenn ich dieſen kuͤhnſten aller Ausdruͤcke hier
brauchen darf — Thorheit Gottes, weiſer als die Menſchen. Welch ein Lamm! welch un-
verfuͤhrbare Reinheit! welche Treue! — Nimm die Stirn allein, Aug allein, Naſe allein, Mund
allein — jedes Einzelne iſt ſtehender Ausdruck reiner Guͤte. Jch neige mich vor dem Schatten des
Mannes, der dieß Bild erfand, ſchuf, und ſich in dieſem Schatten erquickte. Man hoͤrt aus die-
ſem Munde Worte des ewigen Lebens — Selig ſind die Sanftmuͤthigen! die Barmherzigen!
die reines Herzens ſind! die Friedliebenden!
Es iſt alles aus der Seele herausgeſprochen. Es kann kein Betrug in dieſem Munde ge-
funden werden. Je mehr ich es anſehe, deſto mehr liebe ich — deſto mehr zittert mein innerſtes
Mark nach einem Hauche dieſer goͤttlichen Ruhe und Einfalt. O wer kann zuͤrnen in der Gegen-
wart dieſer Sanftmuth? wer dieſer Wahrheit luͤgen? — wer, als Gewalt der Finſterniß, koͤnnte
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/587>, abgerufen am 29.11.2024.
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